Ein Tag der „größten Gotteslästerin der Welt“

Asma Jahangir, Rechtsanwältin und Bürgerrechtlerin, kämpft einen einsamen Kampf gegen eine korrupte Polizei und eine ängstliche Justiz, die sich zunehmend von den islamistischen Kräften Pakistans einschüchtern lassen  ■ Aus Lahore Bernard Imhasly

Das Gerichtsgebäude von Lahore ist ein Gewirr von Bauten, Verbindungskorridoren und Innenhöfen, deren Hauptaufgabe darin zu liegen scheint, in der Hitze des Sommers Schatten und Luftzug zu schaffen. Selbst die geparkten Autos drängen sich an die Wände und unter die paar Bäume.

„Da sind ja schon meine Freunde“, sagt Asma Jahangir mit fröhlichem Sarkasmus, während sie für ihr Auto einen schattigen Ort sucht; sie weist auf ein Dutzend Anwälte, die das Gerichtsgebäude betreten. Mit ihren langen Bärten und den wallenden Gewändern markieren sie den Kontrast zum Kleidercode ihrer Kollegen – schwarze Weste, weiße Hose – und damit wohl auch zu deren „unislamischer“ Rechtsauffassung. Asma, die sich demonstrativ unverschleiert in der Öffentlichkeit zeigt, erzählt, daß sie von diesen islamischen Kollegen vor drei Monaten physisch bedroht wurde. Damals verteidigte sie zwei Christen, die wegen „Blasphemie“ mit der Todesstrafe bedroht waren. Unterdessen läuft die kleine Frau so rasch ins Gebäude, daß ihr Leibwächter kaum Schritt halten kann.

In der Kammer von Oberrichter Siddiqi ist Asma die einzige Frau unter 27 Anwälten, und da sie nur einen Antrag auf Freilassung gegen Kaution zu stellen hat, ist sie rasch an der Reihe. Es geht um eine Frau und einen Mann, gegen die ein Unbekannter Klage wegen Ehebruch erhoben hat. Unverheiratet waren sie zusammen in einem Zimmer ertappt worden. Darauf stehen gemäß islamischer Rechtsordnung fünf bis zehn Jahre Gefängnis. Asma kann heute erreichen, daß die Frau nach zwei Monaten Untersuchungshaft gegen Kaution freikommt.

Im Sprechzimmer der Anwältin wartet eine ärmlich gekleidete Frau. Sie erzählt Asma die Geschichte von Samina, ihrer 21jährigen Tochter: Im Oktober 1993 habe sie Ejaz geheiratet. Als sie nach einem Jahr immer noch nicht schwanger war, begann ihr Mann, sie zu schlagen, und die Schwiegermutter überhäufte sie mit Vorwürfen. Gestern erhielt die Mutter die Nachricht, Samina sei am Vortag gestorben – sie habe sich bei der Teezubereitung tödliche Verbrennungen zugefügt. Allen ist sofort klar, was dies wahrscheinlich heißt: Samina ist mit Kerosin übergossen und angezündet worden. „Ein probates Mittel, sich einer angeblich ,unfruchtbaren‘ Gattin zu entledigen – und mit einer zweiten Heirat nochmals den Brautpreis einzukassieren“, kommentiert Asma Jahangir. Der Verdacht auf ein Verbrechen liegt um so näher, als die Nachricht von Saminas Tod die Eltern erst 24 Stunden später erreicht hat. Und als sie zur Polizei gingen, weigerte man sich, eine Untersuchung einzuleiten – Indiz für eine mögliche Bestechung. Es gelang den Eltern Saminas gerade noch, die Leiche nach Hause zu bringen und damit zu verhindern, daß sie ohne Obduktion begraben wurde.

Nun sind bereits zwei Tage seit dem Verbrechen vergangen, und die Leiche liegt immer noch bei den Eltern, auf Eis gebettet – die Mittagstemperatur liegt heute bei 43 Grad. Asma muß möglichst rasch eine Order beibringen, die die Polizei zum Handeln zwingt. Sie setzt ein Gesuch auf, läßt es tippen, mit vier Durchschlägen. Damit läuft sie in ein Nachbargebäude zum Staatsanwalt. Doch dieser ziert sich: „Es ist eine Verwaltungsangelegenheit, Asma. Frage doch einen Richter“, meint er freundlich. Asma lächelt zurück, doch im Korridor zischt sie, während sie mit kleinen raschen Schritten weitereilt: „Schau dir diese Bastarde an, sie schützen sich gegenseitig.“ – „Frage doch einen Richter“, das ist leicht gesagt: Zuerst muß der Registerbeamte ihr eine Nummer zuweisen. Wieder ist ein Text zu tippen. Dann wird sie zum Chefrichter laufen müssen, der ihr einen Richter zuweist, und dann muß sie diesen – noch vor Mittag – dazu bewegen, eine Order an die Polizei auszustellen.

Während sie wartet, macht sich Asma an die Bearbeitung einer Resolution. Zwei Tage zuvor hatten die religiösen Parteien einen landesweiten Streik ausgerufen, um die Regierung daran zu hindern, im Blasphemiegesetz einige Verfahrensmängel zu korrigieren. Obwohl die Todesstrafe davon nicht berührt wird, hatten die Mullahs jeder Änderung den Kampf angesagt. Asmas Resolution, im Namen der Anwaltskammer von Lahore, wendet sich gegen den politischen Mißbrauch der Religion. „Wir Anwälte haben die Pflicht, unsere liberale Position zu vertreten. Die meisten Kollegen haben Angst vor den Mullahs. Aber ich lasse sie nicht entschlüpfen.“ Mit dem Text eilt sie in die „Lawyers Bar“, wo rund zweihundert Anwälte, alles Männer, mit einem Schwatz und einer Tasse Tee die Gerichtspause verbringen. Sie geht von Tisch zu Tisch und sammelt Unterschriften. Warum muß es gerade eine der wenigen Frauen unter den 5.000 Mitgliedern sein, die eine Resolution schreibt und Unterschriften sammelt? „Ach, wissen Sie“, meint ein älterer Anwalt, während er aus der Untertasse seinen heißen Tee schlürft, „Frauen wie Asma Jahangir – sie sind wie die ersten Tropfen des Monsunregens. Wir hier“, meint Sadiq Mirza mit einer selbstironischen Geste in die Runde, „wir sind die ausgedörrte Erde. Die meisten von uns haben Angst. Asma hat Mut.“ Und Mirza erzählt davon, wie vor einem Jahr überall in Lahore Poster aufgetaucht waren, die „rechtgläubige Muslime“ aufforderten, Asma und drei weitere Menschenrechtler „zu jagen und zu erledigen“, weil sie „die größten Gotteslästerer der Welt“ seien. Das einzige, was Asma daraufhin zu ihrer Sicherheit tat, war, eine Sonnenbrille zu tragen. Der Leibwächter wurde ihr von der Regierung aufgedrängt.

Beim Rückweg ins Büro des Registerbeamten geht sie auf einen Mann zu und begrüßt ihn: „Wie geht's Ihnen, Sie böser Mensch?“ Lachend streckt sie ihm die Hand entgegen. Er ist sichtlich verlegen, doch er kann der Geste des Handschlags – die gefürchtete Berührung einer Frau in der Öffentlichkeit – nicht ausweichen. Er streckt ihr einen Finger entgegen. „Meine kleine Rache“, sagt Asma beim Weitergehen. „Er war der Staatsanwalt im Prozeß gegen die zwei Christen. Er war es, der für sie die Todesstrafe gefordert hatte, um den Mullahs zu gefallen.“ Der Registerbeamte hat den Antrag für den Obersten Richter immer noch nicht unterzeichnet. Wiederum heißt es warten, während Asma per Mobiltelefon mit ihrer Kanzlei spricht.

Ein Gerichtsdiener kommt gelaufen – eine Oberrichterin will sie sofort sprechen. Wiederum ein langer Weg durch Korridore und über Innenhöfe. Nach fünf Minuten kommt sie aus der Kammer der Richterin. Sie ist wütend. „Sie will, daß ich den Aufenthaltsort einer Klientin preisgebe. Es ist die Frau eines mächtigen Politikers, und sie ist ihm wegen ,ehelicher Gewalt‘ bereits dreimal davongelaufen – er hat sie immer wieder zurückgeholt. Jetzt ist sie untergetaucht, und ihr Mann setzt alle Hebel in Bewegung, um ihrer habhaft zu werden. Sogar aus dem Büro des Staatspräsidenten bekomme ich Anrufe. Und jetzt setzt er sogar Richter auf mich an.“ Was sie zur Richterin gesagt habe? „Sie müssen mir schon die Anwaltslizenz entziehen, bevor ich meine Schweigepflicht breche.“

12 Uhr 15. Die Petition ist registriert, nun braucht es die Unterschrift des Obersten Richters. Er ist nicht in seiner Kammer, dafür drängen sich Polizisten vor der Tür. Draußen in der Sonne findet eine Demonstration statt. Frauen halten eine Puppe in die Höhe, schlagen sie unter Schimpfrufen mit Sandalen, werfen sie in den Staub und trampeln darauf herum. Ein Mann steht auf einem Bauklotz und hält eine Waage in die Höhe, deren eine Schale sich tief gesenkt hat – weil Geldnoten darauf liegen. „Es sind Anhänger der Opposition. Die Puppe stellt Benazir Bhutto dar, ihr wird vorgeworfen, nach ihrer Machtübernahme die Richter ausgewechselt zu haben.“ Und die Waage bedeutet die Käuflichkeit der Gerichte. Stimmt das? „Natürlich! Aber es ist wie wenn einer ,Haltet den Dieb!‘ ruft, um von seinen Machenschaften abzulenken. Es ist die Tragik dieses Landes, daß das System so unversöhnlich polarisiert ist: Jede Partei setzt alles daran, den Gegner fertigzumachen. Die Demokratie wird in der Konfrontation aufgerieben.“

Wie steht es um die politische Resolution? Asma läuft, trotz der nun brennenden Hitze, aus dem Gerichtsareal in eine der engen Gassen des Viertels, wo viele Anwälte ihre Kanzleien haben. Es bedarf noch einiger Unterschriften, damit die Resolution formell zur Abstimmung kommen kann.

Es ist ein Uhr. Im Ruheraum der Anwältinnen weint die Mutter von Samina tränenlos vor sich hin, während ein lärmiger Fernsehapparat ein BBC-Programm über eine Karrierefrau in England wiedergibt: Bilder von der Rennbahn, wie sie ihr Pferd anfeuert, Champagner danach. Endlich die Nachricht, daß der Richter angekommen ist. Seine Kammer ist inzwischen so überfüllt, daß Asma sich nur mit Mühe an die Schranke drängen kann, als ihr Name aufgerufen wird. Der Richter macht einige Bemerkungen, dann gibt er endlich die Order: bei Saminas Tod liege der Verdacht auf foul play vor, und die Polizei solle unverzüglich eine Untersuchung beginnen. Die Mutter Saminas will die gute Nachricht nach Hause melden, doch dann ist sie es, die durch Asmas Mobiltelefon eine Nachricht bekommt – eine schlechte: Die Polizei habe den Leichnam bereits abgeholt. Was bedeutet das? „Die Gegenseite hat wahrscheinlich gehört, daß wir eine Gerichtsorder vorbereiten. Nun haben sie die Flucht nach vorn ergriffen: Sie setzen eine Untersuchung an, der Ehemann gibt zu Protokoll, Samina habe Selbstmord begangen, worauf die Polizei den Fall abschließt und, aus Gründen der öffentlichen Hygiene, die Leiche rasch begraben lassen wird. Aber wir werden es verhindern.“ Asma instruiert eine befreundete Anwältin über das weitere Vorgehen und macht der trauernden Frau Mut. Ihr Tag im Gericht ist zu Ende.

Am Nachmittag, in ihrer legal aid cell, hat sie endlich Zeit zu einem Gespräch. Was ist der Preis, den eine Frau in Pakistan bezahlen muß, um einen derartigen Rhythmus durchzustehen? Was sind die persönlichen Opfer? Man hatte von einem Herzleiden der 39jährigen Anwältin berichtet, das akut wurde, als sie vor drei Monaten die beiden Christen gegen die drohende Todesstrafe verteidigte – dabei stand sie nicht nur gegen den Staatsanwalt, sondern auch gegen Hunderte fanatischer Muslime, deren Slogans bis in den Gerichtssaal drangen. Das Herzleiden wird mit einer wegwerfenden Handbewegung bedacht, aber sie stellt sich den Fragen gleichwohl: „Wenn ich mein Familienleben betrachte, ja, da fühle ich ... nein keine Schuld, eher Trauer. Heute, da die drei Kinder allmählich groß werden, sehe ich, daß ich Dinge verpaßt habe. Zum Beispiel, mit ihnen einmal zehn Tage in die Ferien zu fahren; oder anwesend zu sein, wenn sie beim Arbeitszimmer vorbeikommen. Mein Dreizehnjähriger steckt gerade in den Schulprüfungen. Ich möchte ihm zur Verfügung stehen, wenn er mich braucht. Aber ich fliege heute Nacht nach Japan – zu einem Seminar über Kinderarbeit und“, fügt sie mit Selbstironie hinzu, „über die Rechte des Kindes.“

„Mein Mann wird belästigt. In der Presse erscheinen lächerliche Vorwürfe, in seiner Fabrik würde Kinder- und Sklavenarbeit betrieben. Stellen Sie sich die Schlagzeilen vor – ,Asma Jahangir, Mitbegründerin der Bonded Labour Liberation Front, beschäftigt Leibeigene‘.“

Die Schlagzeilen können auch anders lauten. Ein Mitarbeiter kommt mit einer Ausgabe der größten Zeitung Pakistans ins Büro. Er zeigt ihr die Erklärung, mit der die Jamat-Islami-Partei auf Asmas Protest gegen den „Blasphemie-Streik“ und die zunehmende Indienstnahme der Religion für radikal fundamentalistische Politik reagiert. Frau Jahangir, heißt es da mit mühsamer Zurückhaltung, habe zwar die Religion beschimpft, aber da sie eine Frau sei, genieße sie den besonderen Schutz des Islam, sonst wären ihr hundert Stockschläge sicher.

„Sehen Sie“, sagt die Bedrohte lachend, „ist es nicht ein Glück, in Pakistan eine Frau zu sein?“