Gesucht wird ein globales Flüchtlingskrisenmanagement

Wie reagiert die internationale Politik auf die Veränderung von weltweiten Fluchtursachen? / Welche Konzepte werden diskutiert?  ■ Von Jürgen Gottschlich

Allein die Zahlen sind schon erschreckend. Nie waren weltweit mehr Menschen auf der Flucht, als in der letzten Dekade des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Rund 27 Millionen Menschen werden derzeit weltweit vom UNHCR, der UNO- FLüchtlingsorganisation, betreut – mit steigender Tendenz. Wenn 27 Millionen Menschen auf der Flucht sind, vertrieben wurden oder in Flüchtlingslagern vor sich hinvegetieren, ist dies nicht mehr nur ein humanitäres Problem.

Mit Flüchtlingen wird Politik gemacht. Große Gruppen von Bürgerkriegsflüchtlingen können, wie in Ruanda, Burundi und Zaire, Nachbarländer destabilisieren, oder aber, insbesondere wenn sie gut ausgebildet und deshalb für die Wirtschaft und Verwaltung eines Landes wichtig sind, können sie, wenn sie massenhaft gehen, ganze Gesellschaften ins Wanken bringen. Migration ist zu einem Topthema der internationalen Politik geworden, ohne daß die nationalen Apparate oder internationalen Institutionen das noch richtig bemerkt haben, geschweige denn in der Lage wären, adäquat darauf zu reagieren.

Mit dem Ziel, dieses konzeptionelle Defizit wenigstens einmal zum Thema zu machen, lud die Deutsche Gesellschaft für internationale Politik eine Runde von MigrationsexpertInnen, PolitikerInnen und PraktikerInnen aus internationalen Organisationen zu einem Meinungsaustausch nach Berlin, um das „systematische Nachdenken über Migration als Herausforderung an die internationale Politik“ voranzubringen. Ort der Veranstaltung war sinnigerweise die Akademie der Bundeswehr in Straußberg – schließlich hat Flucht, wenn sie denn in großer Zahl stattfindet, auch ihren sicherheitspolitischen Aspekt.

Zumindestens auf der empirischen Ebene waren sich die meisten Teilnehmer des Treffens einig: Die Zäsur 1989/1990, angefangen mit dem Fall der Mauer bis zur Auflösung der Sowjetunion, hat die globale Situation soweit verändert, daß Flucht heute aus anderen Gründen stattfindet, als in der Phase von 1945 bis 1990. Bis 1990 waren Flüchtlinge häufig Teil der Auseinandersetzung des Kalten Krieges, der ja in der Dritten Welt durchaus als offener Stellvertreterkrieg ausgefochten wurde. Das Ende des Kalten Krieges brachte zwei gegenläufige Entwicklungen mit sich: Einmal Möglichkeiten der Rückkehr in Länder, die Schauplatz der Stellvertreterkriege der Supermächte waren und andererseits neue Konflikte, die unter dem Druck der Blockkonformität vorher nicht virulent wurden.

In Vertretung ihrer Chefin Sadako Ogata, der Flüchtlingshochkommissarin der UN aus Genf, sorgte ihre Bonner Repräsentantin, Judith Kumin, in Straußberg für die faktische Grundlage der Debatte. „Das Ende des Kalten Krieges machte es möglich, einige der bis dahin lang anhaltenden Konflikte zu beenden und verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen: 1,6 Millionen Mosambikaner, 600.000 Äthopier und 375.000 Kambodschaner wurden vom UNHCR in ihre Heimat zurückgebracht.“ Zur selben Zeit entwickelten sich aber vier neue Konflikte, durch die jeweils mehr als eine Million Menschen in die Flucht getrieben wurden: Der Krieg mit dem Irak zusammen mit den inneren Säuberungen des Regimes gegen Schiiten und Kurden, die Stammeskämpfe in Somalia, der Krieg in Ruanda und im früheren Jugoslawien. Dazu kommen mehr als zwei Millionen Flüchtlinge im Bereich der früheren Sowjetunion, die entweder der Krieg um Berg-Karabach, die Auseinandersetzung in Tadschikistan, der Abchasenkonflikt in Georgien oder der Krieg in Tschetschenien heimatlos gemacht hat. Diese globale Veränderung innerhalb der letzten fünf Jahre hat auch die Rolle des UNHCR grundsätzlich verändert. Judith Kumin: „Es reicht nicht mehr, daß UNHCR als Anwalt der Asylsuchenden auftritt. UNHCR wird mehr und mehr zu einem globalen Krisenmanager, zu einer Ideenagentur, und in vielen Fällen zu einem Katalysator für politische Aktionen.“

Die meisten FLüchtlinge heutzutage sind Opfer ethnischer Konflikte. Ging es bis 1990 um die Einflußsphären in einer zweigeteilten Welt, geht es heute um die Vorherschaft in vergleichsweise winzigen Regionen. Die neue Unordnung schafft auch einen neuen Flüchtlingstyp. Statt des klassischen politischen Flüchtlings, der von Staats wegen verfolgt in die Obhut des jeweils anderen Regimes flieht, werden heute immer mehr Menschen Opfer irregulärer Terrorgruppen, Milizen oder bewaffneter Banden, die zumindesten nicht offensichtlich die jeweilige Staatsmacht repräsentieren oder aber, wie in Algerien, im Kampf mit dem Staat auch alle ihnen mißliebigen Personen angreifen. UNHCR fordert deshalb eine Neudefinition des Flüchtlingsbegriffs, da sonst immer mehr Menschen aus dem hergebrachten Raster herausfallen. Das gilt für Intellektuelle, die in Algerien, Ägypten, Pakistan oder anderen Ländern durch islamische Fundamentalisten bedroht werden, oder aber auch für Kurden aus der Türkei, die zwischen die Fronten des Krieges der PKK mit der türkischen Armee geraten. Der neue Mix von Fluchtmotiven, so Judith Kumin, muß zu einer Neudefinition des Flüchtlingsbegriffs führen. Bislang jedoch ohne Erfolg – gerade die reichen Länder wehren sich massiv gegen eine Erweiterung der herrschenden Rechtsdefinition.

Was bedeutet nun diese Veränderung der Flüchtlingssituation für die internationale Politik und in diesem Rahmen für die Sicherheitspolitik innerhalb der betroffnenen Regionen? Gil Loescher, Professor aus den USA, listete gleich eine ganze Reihe von Beispielen auf, bei denen eine plötzlich auftretende Massenflucht regionale Gleichgewichte veränderte. Der markanteste Fall ist nach wie vor der Exodus aus der damaligen DDR 1989. Die Flüchtlinge aus der DDR haben nicht nur ihren Staat ins Wanken gebracht, sondern letztlich das Signal zur Auflösung des Ostblocks gesetzt. Die Massenflucht aus Albanien in Richtung Italien hat dagegen die reichen Westeuropäer noch einmal richtig mobilisiert: die Abwehr ungewollter Einwanderung rutschte ganz nach oben auf der Agenda europäischer Politik. Letztes Beispiel Afrika: Die Massenflucht aus Ruanda, unter deren Deckmantel auch Truppen der besiegten Hutu-Milizen nach Zaire kamen, hat das Nachbarland ebenfalls an den Rand des Krieges gebracht.

Noch immer ist es so, daß die größte Anzahl von Flüchtlingen sich in den ärmsten Ländern der Welt aufhält. Die 17 Nationen mit der größten Anzahl von Flüchtlingen im Verhältnis zu den eigenen Einwohnern haben ein durchschnittliches Pro-Kopf-Jahreseinkommen von rund 900 Dollar. Alle diese Länder sind mit den Flüchtlingen völlig überfordert, sowohl was deren materielle Versorgung angeht, als auch durch die kulturellen Konflikte zwischen Flüchtlingen und der Bevölkerung des aufnehmenden Landes.

Im Vergleich dazu sind die Probleme, die Westeuropa oder die USA mit der Unterbringung von Flüchtlingen haben, harmlos. Trotzdem gibt es in allen westeuropäischen Ländern einen signifikanten Anstieg von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen Ausländer. Auf der anderen Seite hat gelungene Migration, die Integration von Flüchtlingen in ihren Asylländern, oft auch erhebliche Auswirkungen für die Staaten. So wurden in den USA verschiedene Einwanderungsgruppen zu politischen Einflußgrößen, die die amerikanische Außenpolitik zum Teil erheblich mitbestimmen. Die US-Politik gegenüber Kuba, China, Israel oder auch Nordirland ist das Ergebnis dieses Einflusses.

Während bis zu diesem Punkt unter den versammelten ExpertInnen weitgehende Einigkeit herrschte, gab es dann die unterschiedlichsten Einschätzungen in der Diskussion um politische Strategien zur Vermeidung von Massenflucht. Loescher bezweifelte, daß der Westen überhaupt generell Einfluß nehmen kann, machte dann aber doch drei Vorschläge für ein prinzipielles Verhalten der westlichen Staaten, um langfristig das weltweite Migrationsproblem einzudämmen. Öffnung der Märkte, um den afrikanischen und osteuropäischen Staaten eigene Entwicklungsmöglichkeiten zu geben und gleichzeitig eine strikte Beobachtung der Menschenrechtssituation, vor allem was die Situation ethnischer Minderheiten angeht. Einigkeit herrschte noch weitgehend bei der Forderung nach langfristiger ökonomischer Hilfe, allein die Erkenntnis ist nicht neu, und statt den Einsatz für Entwicklungshilfe zu steigern, geht in den meisten Staaten der Anteil der Hilfsgelder im Haushalt zurück. Welche Wirkung aber welche Maßnahme tatsächlich nach sich ziehen würde, ist nach wie vor umstritten. Es fehlen einfach Erfahrungswerte.

Das Hauptproblem ist neben einer langfristigen Strategie aber vor allem die Etablierung eines funktionierenden internationalen Krisenmanagements. Denis de Jong, bei der europäischen Kommission zuständig für Migrationspolitik innerhalb der EU, machte den Anwesenden wenig Hoffnung über den Beitrag, den die EU bereit wäre, zu übernehmen. „Alle reden von Krisenmanagement, doch wenn es darauf ankommt, war alles nur ein Schaufensterversprechen.“ Beispielsweise Algerien. „Noch immer redet niemand in der EU über Algerien. Wir reden immer darüber, wenn alles zu spät ist, wie jetzt in Bosnien.“ Dabei wäre ein Frühwarnsystem nicht so kompliziert. Vor allem ethnische Konflikte, so der Berliner Politologe Wolf-Dieter Eberwein, „haben eine lange Inkubationszeit.“ Man kann im Vorfeld eingreifen, wenn man denn will, und die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellt.

Einen Anfang hat jetzt die OSZE gemacht. Mit der Einführung eines Hochkommissars für nationale Minderheiten innerhalb der 52 OSZE-Staaten wird zumindesten systematisch gesichtet, wo neue Konfliktfelder entstehen könnten. Hochkommissar Max van der Stoel, der seine Arbeit in Straußberg vorstellte, gilt als die heimliche Erfolgsgeschichte der OSZE. Allerdings wird er auch Opfer der politischen Entscheidungen der eigenen Organisation. Nachdem Rest-Jugoslawien wegen grober Verstöße gegen die KSZE-Richtlinien aus dem Verband suspendiert wurde, mußten die Beobachter van der Stoels auch aus dem Kosovo verschwinden, wo sie nach Einschätzung von politischen Beobachtern eine wichtige Rolle bei der Schlichtung kleinerer lokaler Konflikte gespielt haben.

Besonders umstritten in Straußberg waren die Forderungen nach einem verbindlichen, sanktionsbefugten internationalen Flüchtlingsregime und einem internationalen Regime zur Wahrung von Minderheitenrechten. Während das Flüchtlingsregime im Rahmen des UNHCR abgewickelt werden könnte und hauptsächlich ein organisatorisches und finanzielles Problem darstellt, geht es bei wirksamem Schutz von Minderheiten immer um Eingriffe in staatliche Souveränität. Das ist schon im Rahmen der OSZE ein bislang nicht zu bewältigendes Problem, wie der Konflikt um Berg-Karabach zeigt, wieviel schwieriger wird es dann erst bei der globalen Durchsetzung einer solchen Forderung? Allerdings gibt es erste Breschen im Abwehrwall der jeweiligen staatlichen Souveränität. So wurde Irak gezwungen, eine Schutzzone für die Kurden im Norden des Landes hinzunehmen, und auch an anderer Stelle ist es mittlerweile nicht mehr selbstverständlich, daß Völkermord eine innere Angelegenheit ist, in die sich niemand einmischen darf.

So wichtig diese Debatten langfristig sind, vor allem die Vertreterin des UNHCR drängte auf konkrete Projekte, die nur in Absprache mit den fluchtverursachenden Staaten durchgeführt werden können. UNHCR hat dabei eine integrierte Strategie zur Bekämpfung von Fluchtursachen, internationalen Schutz von Flüchtlingen und ein Flüchtlingsrückführungsprogramm entwickelt, mit dem auf die ganz unterschiedlichen Migrationsbewegungen reagiert werden soll. In zwei Fällen hat es ein bislang erfolgreiches Programm auf regionaler Ebene gegeben, in das die betroffenen Staaten direkt eingebunden waren. Einmal in Mittelamerika, wo sieben Regierungen (Belize, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Mexiko) zusammen mit internationalen Organisationen ein Flüchtlingsrückkehrprogramm entwickelten, daß vom UNHCR überwacht wird. Rund 400 Millionen US-Dollar sind seit 1989 zur Rückansiedlung von Flüchtlingen in die Region geflossen, ein weltweit bislang einmaliger Erfolg. Ein ähnliches Programm wurde im Juni 1989 für Südostasien entwickelt. Dabei geht es darum, entweder eine legale Einwanderung in einem Drittstaat des Westens zu ermöglichen, oder aber eine Rückführung und Wiedereingliederung in Vietnam und Laos durchzuführen.

Judith Kumin würde sich ein ähnliches Programm auch für die Rückführung der jetzt aus der Bundesrepublik zur Abschiebung vorgesehenen 40.000 Vietnamesen wünschen. “Ohne allzu großen Aufwand könnte man denen eine menschlich erträgliche Rückkehr ermöglichen.“