Das Draußen weht ins Fenster

■ Sommer in der Stadt: Berlin ist plötzlich urban / Die Hitze verwirrt die Gemüter der Einheimischen, die Rucksacktouristen sitzen in den Parks und verirren sich in den Straßen

Im Sommer ist Berlin am besten. Die Hitze stürzt einen ins Vergessen, und es ist so, als sei es immer schon so gewesen. Alle Fenster sind geöffnet, das Draußen weht herein. Die Menschen stützen sich auf ihre Fensterguckkissen, schlafen dann ein und kippen aus dem Fenster. Wer klug ist, schließt die Fenster, damit's etwas kühler bleibt, oder flieht aus der Wohnung, denn das Vorbild der Wohnung ist die Höhle, und das Vorbild der Höhle Mamis Bauch. Und der Bauch ist wie das Fernsehen: Da scheint nie die Sonne.

Seit der Verpackung ist Berlin plötzlich urban, und seit der Love Parade sind alle zu Techno-Fans geworden. Der „Politaktivist“ Christian Specht zum Beispiel, der seit ein paar Tagen ständig, bis über beide Ohren grinsend, in die taz stürmt und immer nur „Techno, Techno, Techno!“ ruft und dabei mit den Armen wackelt. Auch andere, auch ältere: der Soziologe Matthias Mildner zum Beispiel oder die Kunstexpertin Sabine Vogel, ein paar Senioren im Café Kranzler oder auch ich. Wobei mich der vierzigjährige Mildner warnte, meine Begeisterung (die allerdings drei Wochen älter ist als die seine!) raushängen zu lassen. Das könne leicht peinlich wirken und erinnere ihn ein bißchen an diese ganzen „dreißigjährigen Studienratstypen“, die sich Anfang der achtziger Jahre als Punkmusikfans bei der Jugend „anbiederten“.

Ein wenig irritierte nur, daß sich auf der Love Parade kaum welche mal umarmten oder küßten. Statt dessen tanzten die halbnackten Körper eher allein vor sich hin und versuchten auch im dichtesten Gedränge noch Distanz zueinander zu halten, als wollten sie den Reklametrotteln von „West“ recht geben: „I'm happy – leave me alone!“ Nur zwei junge Männer hielten sich auf der Moltkebrücke beim „KISS-Love-Boat“ an den Händen und sprangen alle halbe Stunde in die Spree. „Die sind eben lustig.“ — Lustig sind auch die reisenden Teens und Twens, die in den Gängen der unglaublich unbequemen IC-Night-Züge überall herumliegen oder in Gruppen ständig zwischen denen umherschleichen, die sich in den völlig bescheuerten „Liegesesseln“ stöhnend abmühen, ein bißchen zu schlafen. Manche haben Paddelboote mitgenommen oder Kochtöpfe. Die klappern beim Gehen.

In Berlin angekommen, legen sie sich vertrauens- und erwartungsvoll wie kleine Vögelchen überall hin, wo's ein bißchen grün ist, oder bleiben in den Bahnhöfen, wenn sie grade müde sind. Manche sitzen ein bißchen abseits in den Ecken und lesen den „Steppenwolf“ oder „On the Road“ (tatsächlich). Auf ihre Rucksäcke haben sie „Peace“-Zeichen gemalt und Herzchen und „Sprüche“, wie zum Beispiel, daß dies hier eine „Nazifreie Zone“ sei. Viele treiben sich dann in Ku'dammnähe rum und wissen nicht so recht, was sie mit ihrer Jugend und der Stadt anfangen sollen. Andere haben gehört, daß es in Mitte und Prenzlauer Berg hoch hergehen soll, und halten zerknautschte Stadtpläne in ihren Händen. Letztes Wochenende verirrten sich ständig Kleingruppen am Halleschen Tor auf der Suche nach Diskotheken ohne Eintritt, wo was los ist. Geht doch ins Tacheles! Am Checkpoint Charlie fragten mich welche, ob sie denn noch in Berlin seien. Andere rennen durch die Friedrichstraße und rufen: „Hier geht die Susi ab!“

Ein paar kichernde Schweden finden, daß es an der Heinrich- Heine-Straße genauso aussieht wie daheim, ein junges Mädchen mit roten Bäckchen und einem orange Strickpullover, das mit seiner Freundin einen Joint baute, fragte mich am Kollwitzplatz plötzlich und unvermittelt, ob ich ihm „einen Schuß setzen“ könne. Techno findet sie „seelenlos“; „Raver“ abscheulich.

Schlechtgelaunte Berliner schicken die Reisenden in die Wüste und lachen dabei. Nachts in der Oranienburger Straße spielen die jungen Touristen gern Fußball. Gestern nacht stand eine nackte Frau an der AGB. Das war wohl die Hitze; das verwirrte. Was soll man da sagen? Eine Betrunkene pißte in der Gneisenaustraße auf den Bürgersteig und freute sich, die Spießer wieder mal schockiert zu haben. Ein Berliner Althippie, der vor zwanzig Jahren als Jugendtourist in die Stadt kam, steht verloren vor dem Café Anfall und redet ununterbrochen wirres Zeug mit sich selbst. Ab und an unterbricht er sich kurz, um Zigaretten zu schnorren. Karolin aus Quickborn kam mit dem „Love“-Train nach Berlin. Sie schreibt eine Magisterarbeit über „Franz Jung und Techno“, erzählt sie strahlend und will sich dabei vor allem auf Band 6 der Werkausgabe beziehen: „Die Technik des Glücks. – Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht“. Detlef Kuhlbrodt