Peeping Michelangelo

In diesem Buch geht es ausschließlich um biografische Legenden von bildenden Künstlern; an einer Stelle mußte ich jedoch an eine Kunstform denken, die zum Zeitpunkt seines ersten Erscheinens, 1934, noch fern davon war, als solche anerkannt zu werden – den Film. Ernst Kris und Otto Kurz fanden bei ihren Forschungen über stets wiederkehrende Anekdoten und Legenden um das Künstlerleben „eine Reihe vielfach abgewandelter Erzählungen“, die von der schaurigen Tat berichten, „daß Michelangelo einen jungen Mann zu Studienzwecken an ein Kreuz band und tötete, um sein Sterben in einem Kunstwerk nachzubilden“. Vorbild dieser Erzählungen scheint ein Bericht aus dem klassischen Altertum zu sein, demzufolge der Bildhauer „Parrhasios einen der von Philipp von Mazedonien zum Verkauf ausgebotenen olynthischen Gefangenen, einen alten Mann, ersteigert und unter Folterqualen hingerichtet habe. Dieser von Seneca überlieferte Bericht läßt den Künstler, der den Ausdruck des Leidens im menschlichen Antlitz studieren will, zum Mörder seines Modells werden.“ Kris, Psychoanalytiker und Kunsthistoriker – bis zu seiner Emigration 1938 Kustos am Kunsthistorischen Museum in Wien, und der Kunsthistoriker Kurz, der später die berühmte kulturwissenschaftliche Bibliothek Aby Warburgs betreute, fanden in der Geschichte der Gewaltdarstellung noch zahlreiche Variationen dieser Anekdote vom mordenden Künstler.

Kris, der führende theoretische Kopf des Unternehmens, starb 1957 im New Yorker Exil, in das ihn die Nazis getrieben hatten. Zwei Jahre später kam Michael Powells Film „Peeping Tom“ in die Kinos, in dem Karl Heinz Böhm einen psychopathischen Kameramann spielt, der Frauen tötet, um den Ausdruck der Angst auf ihren Gesichtern zu filmen. Diese zeitgemäße Variation des Kunstmordmotivs stieß seinerzeit bei Kritik und Publikum auf ein solches Maß von Ekel und Widerstand, daß der Analytiker Kris wohl schönes Material für eine weitere Fußnote gefunden hätte. Der gelehrten Filmkritik, die sich mit Snuff-/Splattermotiven beschäftigt, sei das Buch schon dieser einen Passage wegen empfohlen. Man kann hier auf die Idee kommen, daß die Figur des mordenden Regisseurs auf zeitgemäße Weise eine Aura von Macht und Geheimnis wiederbelebt, die den Künstler schon in den ältesten verfügbaren Überlieferungen umhüllt.

Ernst Kris/Otto Kurz: „Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch“. Mit einem Vorwort von Ernst Gombrich. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1202, 188 Seiten, 18,80 DM.