Eigenverantwortung statt Einschluß

■ Die "Aktion 70" bietet jungen Straftätern eine Alternative zur Untersuchungshaft: in betreuten WGs das Miteinander lernen. Ein geregelter Tagesablauf und Ausbildungsplätze sollen die Jugendlichen stabili

Auf dem Herd schmort ein Hähnchen vor sich hin. Die Waschmaschine in der Ecke springt gerade auf den Schleudergang um. Carsten scheint das wenig zu interessieren: Er ist zu sehr mit seinem Videospiel beschäftigt. Bill und sein Kumpel sitzen apathisch am Küchentisch und wedeln sich mit ihren T-Shirts Luft zu.

„Es ist schon in Ordnung hier in der Wohngemeinschaft“, meint der siebzehnjährige Bill. Eigentlich keine bemerkenswerte Aussage, wenn man mit Freunden zusammenlebt. Bill hat diese Entscheidung jedoch nicht selbst getroffen. Und mit seinen Mitbewohnern verbindet ihn eigentlich nur, daß sie alle vor dem Haftrichter gelandet sind, der sie statt in Untersuchungshaft in einer betreuten WG untergebracht hat. „Ich hab' halt 'n bißchen Scheiße gebaut. Na ja, und vorher hab' ich auch schon ziemlich viel Scheiße gemacht. Deshalb bin ich jetzt hier“, erzählt er. Das „bißchen Scheiße“ nennen Juristen Raub. Was genau passiert ist, möchte Bill nicht erzählen. „Ist doch nicht so wichtig, oder? Das war halt einfach nur so“, sagt er etwas verlegen. Die Unterbringung in der Neuköllner WG von „Aktion 70“ findet Bill gut. „Besser, als im Gefängnis zu sitzen. Stell dir das mal vor, bei der Hitze“, meint er.

Im Gegensatz zur Untersuchungshaft gibt es in den beiden WGs von „Aktion 70“, die vor einem Jahr die Arbeit aufgenommen haben, keinen Einschluß. Helfen statt Verwahren heißt das Prinzip, nach dem die 12 Sozialarbeiter eine 24-Stunden-Betreuung organisieren. Die Zeit zwischen Festnahme und Hauptverhandlung soll dazu genutzt werden, Stabilität in das Leben der Betroffenen zu bringen und Alternativen zu einer Haftstrafe zu erarbeiten. Den Jugendlichen wird bei Behördengängen und bei der Jobsuche geholfen. Außerdem versuchen die Betreuer, eine Unrechtseinsicht zu fördern. „Wir wollen vermitteln, daß die persönliche Freiheit dort aufhört, wo andere verletzt werden“, erklärt die Sozialarbeiterin Gabi Bouchoucha.

Eine Hausordnung schreibt vor, daß die Jugendlichen sich an festgelegte Ausgangszeiten halten, sich eine Beschäftigung suchen und die Hausarbeit selber machen müssen. Die Einschränkungen findet Bill nicht nur erträglich, er begrüßt sie sogar. „Wenn wir keine Regeln bekommen würden, bräuchten wir ja gar nicht hier zu sein. Das muß schon so sein“, ist er überzeugt. Mit seiner Betreuerin hat er sich um einen Ausbildungsplatz gekümmert. „Ich hab' fast hundertprozentig eine Lehrstelle als Farb- und Raumgestalter“, freut er sich.

Ohne Beschäftigung, so Bouchoucha, sei die Gefahr zu groß, daß die Jugendlichen wieder in ihren alten Cliquen landen. „Es geht schließlich darum, sie aus der Umgebung, in der sie Straftaten begangen haben, herauszuholen“, erläutert sie. Für Jugendliche, die keinen Schulabschluß haben, hat „Aktion 70“ einen Pädagogen eingestellt, der die Kids unterrichtet.

Gewöhnungsbedürftig sind für die Jugendlichen die festen Zeiten, in denen sie die Wohnung verlassen dürfen. In den ersten Tagen gibt es nur in Begleitung eines Betreuers „Freigang“, später müssen sie um zehn, am Wochenende um elf in der Wohnung sein. „Die Zeiten sind zwar nicht so dolle, aber damit kann ich leben“, beurteilt Bill die Freizeitmöglichkeiten. Da es keinen Einschluß gibt, müssen die Jugendlichen sich aus eigener Verantwortung an die Zeiten halten. Wer häufiger zu spät kommt, bekommt am Wochenende oder am nächsten Abend Ausgangsverbot. „Wenn wir das nicht durchziehen, würde sich keiner mehr an irgendwelche Grundsätze halten“, meint Bouchoucha. Bleibt ein Jugendlicher länger als zwölf Stunden unerlaubt weg, sind die Betreuer vom Gericht verpflichtet, die Polizei zu verständigen.

Bei den fünf Jugendlichen, die zur Zeit in der WG wohnen, war das bislang nicht nötig. Aber nicht immer läuft die Arbeit so reibungslos ab. In der Anfangsphase gab es erhebliche Schwierigkeiten, erinnert sich Bouchoucha. „Die Jugendlichen haben sich an nichts gehalten. Die kamen, wie es ihnen paßte, es wurde Geld gestohlen, und schließlich wurde sogar eine Mitarbeiterin bedroht“, sagt sie. Das Team beantragte daraufhin beim Richter die Aufhebung der Unterbringung. Anschließend wurde die Hausordnung erarbeitet, um eine Wiederholung des Desasters zu vermeiden.

Obwohl die Arbeit mit den Jugendlichen gute Fortschritte macht und auch die Anerkennung von „Aktion 70“ bei Richtern und Staatsanwälten steigt, sind die Mitarbeiter besorgt. Vor wenigen Monaten wurde in Lichtenrade mit dem Bau einer U-Haftanstalt für 80 Jugendliche begonnen. „Wir sind darauf angewiesen, daß das Bereitschaftsgericht die Jugendlichen bei uns unterbringt. Bis der Bau in Lichtenrade fertig ist, müssen wir so etabliert sein, daß die Richter nicht mehr an uns vorbeikommen“, lautet die Aufgabe, die sich die Mitarbeiter des Projekts gestellt haben. Gesa Schulz