: Das Volk grinst sich durch die Geschichte
Phantome des Allgemeinen: Eine Ausstellung über „Knipser-Fotos“ im Münchner Stadtmuseum ■ Von Andreas Seltzer
Knipser sind beschränkt. Knipser, das sind Auslöserdrücker, die sich mit dem Fotografieren von Familienfeiern und Freizeitfreunden zufriedengeben, sagt das Vorurteil. Einen genaueren Blick auf diese Gruppe von Hobbyisten verspricht eine Ausstellung im Münchner Stadtmuseum. Zusammengestellt und kommentiert wurde die „Geschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich, 1890–1980“ von Manfred Wegner und Timm Starl, dem Herausgeber der Zeitschrift Fotogeschichte; eingerichtet hat sie Peter Strassl.
Die Ansichten vergangenen Lebens sind dort archivarisch ausgebreitet, in Alben verwahrt, von Passepartouts gerahmt, in Vitrinen geschützt. Sie warten darauf, ihre Geschichten zu erzählen. Doch sie bleiben meist stumm. So, als wollten sie eine Mutmaßung des Textes bestätigen, mit dem die Knipser- Bild-Abteilung der Jahre 1945 bis 1989 eingeleitet wird: „Die meisten von uns finden keine Zeit mehr, die selbstgemachten Aufnahmen zuzuordnen, und es scheint, als dienten diese eigenen Bilder nicht mehr so sehr der Erinnerung als dem Vergessen [...]“
Daß die Fotos dort so selten ansprechen, mag zum einen daran liegen, daß ihnen jener Intimitätsrahmen fehlt, der dem öffentlichen Zeigen privater Lebensbilder angemessen wäre. Zum großen Teil werden sie in der Form der Dokumentenausstellung dargeboten, deren Hauptelement die traditionelle Tisch- und Wandvitrine ist. Der Abstand zu ihnen entspricht dem, den Besucher zu Präparaten in naturwissenschaftlichen Sammlungen haben.
Schematismus der Erinnerung
Ein weiterer Grund für das Ausbleiben von Erinnerung ist das Ordnungssystem der Bilder, das willkürlich und schematisch wirkt: Da geht es von der „Reise 1890- 1914“ zur „Reise 1927–1940“; von der „Freizeit 1890–1914“ zur „Technik und Arbeit 1914–1940“; und der „Besitz 1950–1970“ wechselt in die „Freizeit 1950–1989“ über. Vieles geht in diesen groben Rubrizierungen unter oder wird ausgeblendet: Pornographie, die Heimtier- und die Pflanzenbilder; Witzbilder, die von Kindern gemachten Fotos und die Experimente etwa (denn auch Knipser probieren aus und spielen mit den Möglichkeiten der Kamera). Vor den Porträts aus der Jahrhundertwende, die allmählich ihre Steifheit verlieren, fragt man sich, in welcher Weise das Gebot der Natürlichkeit, bis heute eiserne Regel beim Fotografiertwerden, sich als Folge fortgeschrittener Fototechnik mit dem geänderten Ausdruckskanon gesellschaftlicher Leitbilder verbindet. Darüber erfährt man nichts. Auch nicht darüber, wie sich die Inszenierungen vor der Kamera verändern und die Ansichten, was ein gelungenes oder mißratenes Foto ist; oder wie es sich mit dem verwackelten verhält, das einst ein Angriff auf die Fotografenehre war und seit einiger Zeit als Ausdruck des Spontanen geschätzt wird.
Da gibt es beispielsweise in den Alben unserer Großeltern jenes Motiv aus deren ersten Liebeszeiten, das sie, mit Selbstauslöser aufgenommen, zusammen beim Bücherlesen zeigt. Soll es Beweismittel dafür sein, daß da ein Paar im Lesen und beredten Schweigen Lebensklugheit für die Gemeinsamkeit aufnimmt? Ist es ein Beschwörungsbild, das der Eintracht gilt, die von den Niederträchtigkeiten der späteren Jahre noch keinen Begriff hat? Oder ist es schon ein Bild fürs Alter, das die Jugenderinnerungen frühlingshaft bekränzt und das Widrige vergißt? Es scheint so, als grinse das Volk sich, bis auf Ausnahmen, durch die Geschichte. Ehekrach, kaputtes Auto, Krankheit, Schimmelpilz an den Wänden, bröckelnde Fassaden, das Loch im Kopf oder in den Socken, all das gibt es auch im Knipser-Bild, nur nicht in der Ausstellung.
„Neue Frau 1920–1933“ gefällig? Bitte sehr, da ist sie schon und sieht genauso aus, wie wir sie uns vorgestellt haben: mit Bubikopf, beim Paddeln im Nord-Ostsee-Kanal, mit Freund im Café Josty, mit Sohn beim Sackhüpfen in der Kolonie Kleeblatt; sie ist selbstbewußt, braungebrannt und wählt sozialdemokratisch. Wie dieses Wesen aus der Retorte der goldenen zwanziger Jahre nach 1933 aussieht, wird als bekannt vorausgesetzt. Es verschwindet in der Rubrik „Familienleben 1920–1935“, taucht irgendwo bei „Ereignisse 1926–1935“ als BDM-Bannerträgerin wieder auf und tarnt sich bei „Technik und Arbeit 1914–1946“ als Zündkabelmontiererin in der Munitionsfabrik. Die Männer sind derweil in den Weltkriegen eins und zwo mit Marschieren, Töten und Kaputtmachen beschäftigt. Sie knipsen Ruinen, ausgebrannte Tanks, zerschossene Leiber anderer Soldaten; sie feiern Weihnachten im Unterstand, machen Zigarettenpausen im Schützengraben oder schwimmen in der Wolga um die Wette.
Nichts kann die Rubrizierungen der Ausstellungsregisseure erschüttern. Selbst die Leichenberge nicht, die auf den Seiten eines Albums zu sehen sind, das David W. anlegte, der die Konzentrationslager Auschwitz und Dachau überlebte. Der Holocaust ist hier dem Geschehen des Zweiten Weltkrieges zugeordnet.
Barbarei und Gemütlichkeit
Ohnehin die Alben. Schöne Exemplare hat man ausgegraben, sorgfältig beschriftete, liebevoll bemalte Stücke: „Die Wanderung nach Falkenstein“, „Unsere Fahrt zum Lago Maggiore“, „Die große Luftfahrtschau auf dem Tempelhofer Feld“ ... Aber wenn es schon ums Album geht, das ja nicht nur Aufbewahrungsmittel ist, sondern beim Blättern, im Rhythmus des Betrachtens, auch Zeitabläufe wiedergeben soll, – warum dann nicht auch jene Alben, die deutlich machen, wie begrenzt dies Medium des Privaten ist? Alben, in denen die Übereinkünfte zwischen Bild und Rahmen gebrochen sind und sich Barbarei und Gemütlichkeit verbinden: Im Stroop-Bericht etwa, jenem Album, das die Zerstörung des Warschauer Ghettos dokumentiert, oder im Auschwitz- Album, das Lili Jakob Meier im Konzentrationslager fand, bis zur Befreiung versteckte, und dessen Bilder unser Wissen über die Vernichtung der Juden prägten.
Was macht den „individuellen Blick“ des Knipsers aus, von dem im Schlußteil die Rede ist? Wie unterscheidet er sich von dem professioneller Fotografen? Wie die „Hermetik des Privaten“ bleibt dies „Individuelle“ nur Behauptung.
Die Fotos in den Portemonnaies und Brieftaschen, als Talismane und Amulette, die Privatfotos in den Sexmagazinen, die Vorführungen der Urlaubsdias, die vielfältigen Methoden des Zeigens und Öffentlichmachens von Privatem – keine Spur davon. So kommt einem der Verdacht, daß dies Fehlen dem Zweck dient, die Knipser als beschränkte, aber ehrliche Klasse darzustellen, die hin und wieder noch Zeugnisse des Ungekünstelten und Wahrhaftigen abliefert. John S. Weber schrieb beispielsweise 1995 in einem Katalog des „Internationalen Fotoflaneurs Joachim Schmid“: „Wir betrachten Knipser-Bilder und Paßfotos, Bilder aus Fotoautomaten oder Party-Polaroids als Zeichen authentischer Erfahrung.“ Tun wir das? Oder dienen die Knipser-Produkte, so gesehen, nur den nostalgischen Projektionen von Leuten, die gerne als Kuratoren und Abteilungsleiter die „Low art“-Sektionen mancher Museen betreuen würden? elbstverständlich mit besseren Sehbedingungen, als denen der Knipser-Ausstellung, wo alles trübe ausgeleuchtet ist, und die Wände so gelbweiß, lazarettgrau und dumpfblau gestrichen sind, daß man bald von Depressionen befallen wird. Ja, das Erinnern ist manchmal gar nicht lustig, und das Vergrößern einiger Motive zum Großposter macht das Vergangene auch nicht schöner.
Groß ist im Reich der Knipser der Umsatz der Fotoindustrie. Bis auf eine Sammlung vielgekaufter Knipser-Kameras und eine Zusammenstellung von Ratgebern zum besseren Fotografieren bleibt in der Ausstellung die Industrie im dunkeln. Wen interessieren schon die Verkaufsstrategien von Kodak oder Agfa? Wen kümmert der Wechsel von Schwarzweiß zur Farbe, die Änderung der Standardgrößen, die Frage nach Entwicklungszeiten in den Fotogroßlabors?
Auch in der Sphäre des Besonderen, die der Künstlerschau vorbehalten ist, bleibt der Blick auf die Knipser meist nostalgisch. Da zeigen Ideenfabrikanten und Fundstückaufbereiter wie Timm Ullrich, H. P. Feldmann oder Adib Fricke, daß sie sich ein Herz für die kleinen Leute bewahrt haben und daß da und dort im ganzen Bilderplunder Respektables zu finden ist, was sich in den Kunstkreislauf einleiten läßt.
Des Künstlers Herz für die kleinen Leute
Selten sind die Knipser anderes als matte Phantome des Allgemeinen. Zu den raren Lichtblicken der Ausstellung gehören die Bilder des Wanderpfarrers Oskar R., eines ambitionierten Amateurs, der seine Fotos mit technischen Angaben versah, akribisch kommentierte und eines seiner Aktporträts so beschrieb: „Blitzlichtaufnahme von Sonntag, 29.12.1901 abends, kopiert Montag, 30.12., fixiert Dienstag, 31.12.01. Geradezu großartig in jeder Beziehung, sowohl was das Wie, die Schärfe, schließlich die Darstellung anlangt, als auch in bezug auf das Was. Mein Körper nimmt sich auf dieser Photographie am besten aus. Man kann da so ziemlich mit ihm zufrieden sein. Nur daß die Beine etwas zu kurz sind [...]. Direkt neben der rechten Hand tritt sehr stark der Leberfleck hervor. Viel stärker als in Wirklichkeit macht sich auch auf dem Kopfkissen die etwas dunklere Stelle geltend, wo der Kopf meist zu liegen pflegt und die leider durch das fettige Haar schmutzig geworden ist [...]. Die Geschlechtsteile bleiben wunderbare Gebilde. 1902.“
Das erinnert an den scharfen Blick eines anderen Knipser-Enthusiasten und Seelenverwandten Oskar R.s. Der Schöpfer literarischer Momentaufnahmen Peter Altenberg schrieb 1903 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Kunst: „Die größte Künstlerin vor allem ist die Natur, und mit einer Kodak in einer wirklich menschlich-zärtlichen Hand erwirbt man mühelos ihre Schätze [...] Wir wollen die Kunst, dieses Exzeptionelle, dem Alltag vermählen. Wir wollen dich erziehen, das heißt aufhalten in deinen Rastlosigkeiten, auf daß du verweilst, schaust, staunst! Es gibt soviel zu schauen und zu staunen! Innezuhalten, zu verharren! Stillgestanden, Allzugeschäftiger! Nütze deine Augen, den Rothschildbesitz des Menschen!“
Begeisterung, die Kraft, die jeder Liebhaberei innewohnt, ist der Knipser-Ausstellung fremd. Die Wunder des Sehens bleiben meist verborgen. Der Rothschildbesitz des Menschen, er ist dort nur eine Angelegenheit für Nachlaßverwalter und Archivare.
„Knipser – Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1890 – 1980“; bis 20. August 1995 im Münchner Stadtmuseum
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen