Springt auf, rückt ab, schaut an

Fassungslos in Weimar: Klaus Michael Grüber inszenierte das erste Drama von Jorge Semprun beim Kunstfest  ■ Von Petra Kohse

Freitag abend in Weimar, nach einem Gewitterregen. Die Stadt dampft, kaum jemand ist auf der Straße. „Weimar den Weimaranern“ heißt es in der ACC-Galerie – William Wegmans berühmte Polaroids von Weimaraner-Hunden in aristokratischen Menschenposen sind jetzt passenderweise auch hier zu sehen. Über einer leeren Gasse grüßt ein Transparent: „Salve“. Es ist Kunstfest, alle Jahre wieder. Mit der Handspring Puppet Company aus Johannesburg wurde bereits „Faustus in Africa“ koproduziert (vgl. taz vom 27. 6.), heute hat „Bleiche Mutter, zarte Schwester“ Premiere, ein eigens für Weimar verfaßtes Stück von Jorge Semprun, in dem Johann Wolfgang persönlich auftritt und über Gräber springt.

Zum sowjetischen Friedhof im Schloßpark Belvedere am Ettersberg führt ein einsamer, feuchter Trampelpfad am Waldrand entlang. Ganz plötzlich erreicht man den Friedhofseingang mit dem Sowjetstern. An einem Stand werden T-Shirts mit dem Aufdruck „Salve“ verkauft, an einem anderen die Eintrittskarten zum vermuteten Höhepunkt des diesjährigen Weimarer Kunstfestes.

Das Gelände, das sich der Regisseur Klaus Michael Grüber, der Bühnenbildner Eduardo Arroyo und Jorge Semprun für ihr Projekt ausgesucht haben, ist buchstäblich geschichtsträchtig. Schon die Nazis nutzten den nördlichen Teil des Belvedere-Parks für Prunkbestattungen, 1946 ließ die Rote Armee hier einen Friedhof für Bürger der Sowjetunion anlegen.

Unweit des Parks liegt das KZ Buchenwald, wohin der 1923 in Madrid geborene Semprun als Mitglied der kommunistischen französischen Résistance 1943 von den Nazis deportiert wurde. Später war Semprun im Widerstand gegen Franco, 1964 wurde er wegen Abweichung von der Parteilinie aus der spanischen KP ausgeschlossen. Buchenwald, das von 1945 bis 1950 ein Speziallager der Sowjets war, besuchte der Schriftsteller und Politiker erst 1992 wieder. Jetzt hat er ein erstes Stück geschrieben, das die sich überlagernden Geschichtsebenen in der Weimarer Umgebung anhand authentischer Figuren zusammenbringen will – eine Art Dokumentarspiel im Reich der Untoten.

Klaus Michael Grüber liebt außergewöhnliche Schauplätze. Der 54jährige Schwabe, Schüler von Giorgio Strehler in Mailand und Gegenstück zu Peter Stein an dessen Berliner Schaubühne in den 70er und 80er Jahren, ließ etwa 1977 Hölderlin-Texte mitten im Winter im Berliner Olympiastadion sprechen. Und er liebt Bernhard Minetti als Protagonist seiner rätselhaft innerlichen und reduzierten Inszenierungen. Minetti war sein Faust, sein Lear, sein Krapp. Minetti sollte auch bei „Bleiche Mutter, zarte Schwester“ mit von der Partie sein. Konnte der 90jährige aus gesundheitlichen Gründen nicht oder sagte er ab, nachdem er das Stück gelesen hatte? Es wäre nicht das erste Mal.

Andere berühmte Kollegen sind dabeigeblieben. Ulrich Wildgruber spielt Goethe, Hanna Schygulla die Goethe-Schauspielerin Corona Schröter sowie die Brecht- Schauspielerin Carola Neher, die in die Sowjetunion emigrieren mußte; und Robert Hunger-Bühler spielt Léon Blum, den Vorsitzenden der sozialistischen Partei Frankreichs und späteren französischen Ministerpräsidenten, der ab 1943 in einem Sonderlager des KZ Buchenwald interniert war. Ein weiterer „Überlebender“ wird von Bruno Ganz gespielt. Ein Scheinwerfer malt einen Vollmond auf einen Obelisken, hinter den Grabsteinen stehen Lichter, Kerzen auf manchen oder Tannenzapfen, über einem hängt ein lila Herz. Eine Gruppe von Männern schaufelt ein Grab, noch weiter rechts sieht man das Schloß, ein Fenster ist beleuchtet. Ein Pferdekarren nähert sich, während sich Hanna Schygulla an einem Schminkspiegel unter zwei Birken niederläßt. Windgeräusche werden eingespielt, eine Katze schreit oder ein Kind. Eine angenehm trauerkitschige Stimmung herrscht, wie aus einem russischen Schauerschinken. Dann beginnt das Stück.

Die „Schauspielerin“ umschlingt eine Birke und rezitiert aus Goethes „Iphigenie“, die Totengräber sind Häftlinge. Man nennt sie „Muselmänner“, weil sie keine Hoffnung mehr haben, als ob das eine Erklärung wäre. Hier und da bauen sie sich auf und sprechen. Der massige Wildgruber eilt herbei und ist Goethe im Gespräch mit Blum statt Eckermann. Später sind sie sich darin einig, daß das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Massierung sei. Der Wunsch nach Demokratie, meint Goethe, ebne dem Totalitarismus den Weg.

Dann umarmt der Dichter die Schauspielerin unter den Birken, weil er glaubt, es sei seine erste „Iphigenie“: „Corona, zarte Schwester“. Doch Corona ist Carola, die vom letzten KZ-Überlebenden alias Robert Hunger-Bühler einst glühend verehrt wurde. Häppchenweise sagen alle irgendwann Carola Nehers Lebensdaten auf. „Zwei Jahre später, im September 1936, wird sie von Stalins Polizei verhaftet...“ Salve.

Ist das szenischer Brockhaus, eine Gedenk-Farce, ein gespieltes Kolportage-Seminar? Regieanweisungen lauten: „Sie springt auf, rückt ab, schaut ihn an, versucht zu begreifen, begreift.“ Und genau so wird's gespielt, als wär's in Goethes „Liebhabertheater“ – Weimar den Weimaranern? Nationalsozialismus, Stalinismus, und der jüngste der Totengräber kommt auch noch aus einem bosnischen Lager.

Standbilder irrlichtern über den Friedhof und verflüchtigen sich wieder, wie aus dem Off klingt der in Mikroports gesprochene Text auf, dazwischen Zarah Leander und Smetana. Am Ende, nach etwa 75 Minuten, spielt Wildgruber Akkordeon und Schygulla spricht den Anfang eines jiddischen Gedichts. Alle gemeinsam ziehen derweil mit dem Pferdekarren Richtung Schloß.

Das Publikum bleibt stumm sitzen, fassungslos und deprimiert. Das Thema, der Ort, die Macher, die Aufführung. Manche klatschen schließlich zögerlich, andere nicht. Weder Regisseur noch Darsteller lassen sich blicken. Ein Spuk, ein Irrtum, ein Nichts? Ein Rätsel in jedem Fall. Aber eines, das man gar nicht lösen mag.

Weitere Aufführungen: 21.-23, 28.-30.7., 21 Uhr, Sowjetischer Friedhof im Schloßpark Belvedere, Weimar