Im intelligenten Wachsmuseum

Behaarungsformen, Faltenwürfe, sich kontrahierende Muskelwände: „Rites of Passage – Art for the End of the 20th Century“ heißt eine Ausstellung in der Londoner Tate Gallery. Sie zeigt (u. a.) „the disgusting, the intolerable“  ■ Von Mariam Niroumand

Wer das zweifelhafte Glück hat, einmal während der Filmfestspiele nach Cannes zu reisen, wird auf einen seltsamen Atavismus treffen. Höhlenbewohnern gleich, bittet man die durchreisenden Stars, ihre Hand auf eine feuchte Tonplatte zu pressen; Abdrücke davon, ein Hauch von Cathérine Deneuve kann dann anschließend in Form von Instantduplikaten mit nach Haus genommen werden.

Daß der Körper plötzlich wieder in die Kunst zurückgekehrt ist, durchaus auch in Form dieser naiven Verewigungsvignette, konnte man offenbar auf der Biennale in Venedig sehen, die sich ebendies zum Thema erkoren hat („Figures of the Body 1895–1995“). Man kann es auch, in weniger enzyklopädischer, dafür ideologischerer Form, in der zur Zeit in London laufenden Ausstellung „Rites of Passage – Art for the End of the 20th Century“ sehen. Mit ihrer etwas mythisierend-anthropologisch gehaltenen Anlage will die Ausstellung Belege für die nicht unbedingt frische These sammeln, daß die Grenzen des Körpers mit der Flut von Daten, die über ihn existieren, immer schwerer auszumachen sind – und daß diese Grenzziehung aber gerade dann immer verzweifelt notwendiger wird.

Mona Hatoum, Video- und Performancekünstlerin aus Beirut, hat sich in „Light Sentence“ – einem Titel, hinter dem man auch „Life Sentence“ oder „Lebenslänglich“ hören könnte – das Kameraauge einer Magensonde zu eigen gemacht. Im Tempo des Blutstroms fährt man, in einer schwarzen Kammer der ersten Ausstellungshalle stehend, durch die Speiseröhre hinab in ein orangerotes System aus glänzenden, sich kontrahierenden Muskelwänden, stürzt in immer neue schwarze Löcher, wird gulliverhaft angesogen, abgestoßen, gedrängt. Anders als die Innenräume, in die Niki de Saint Phalle seinerzeit noch einlud, ist der Besucher hier nicht mehr Herr im Haus, kann weder das Tempo bestimmen noch darüber entscheiden, ob er wirklich sehen möchte, was als nächstes kommen wird – und was das sein wird, ist fraglich wie nie zuvor. Ein Herz der Finsternis gibt es hier ebensowenig wie ein Licht am Ende des Tunnels – Körper ist immer.

„The disgusting, the intolerable“ ist das geheim-offizielle Interesse der Ausstellung, und irgendwie paßt dazu, daß sie an eben dem Tag eröffnete, als das umstrittende Hinrichtungsvideo „Executions“ auf den englischen Markt kam. So wie die Filmemacher dieses Videos der Auffassung waren, daß man die Bilder von den Hinrichtungen aus aller Welt, entgegen dem ersten Wegseh-Impuls, anschauen muß, sind die Ausstellungsmacher von der Überzeugung beseelt, daß wir viel zu saturiert über die Abgründe hinwegdribbeln, die doch eigentlich schon direkt unter der Haut liegen. Es fehlt uns an Zäsuren oder eben Riten, die die Alten noch hatten, und mit denen sie den Übergang von Adoleszenz zum Erwachsenenleben oder überhaupt vom Leben zum Tod noch markierten. Die Unerträglichkeit des bloß Körperlichen – für die amerikanische Philosophin Elaine Scarry der Urquell aller Zivilisation – läßt auch nach diesen Zäsuren greifen; den ewig gleichen Zeitstrom zu unterbrechen ist in ihren Augen auch eine List gegen die klägliche Verwiesenheit auf den eigenen Körper.

Die einzige Arbeit, die unmittelbar noch an den Initiationsritus erinnert, ist Miroslav Balkas „Rememberance of the First Holy Communion“, eine Szene aus Stahl, Holz, Zement, Marmor und Stoff. Ein Junge steht an einen Tisch gelehnt, in den das Foto eines Kindes eingelassen ist. Eher klaustrophobisch-starr als passager ist dieser Übergang, vor allem der Tod des Kindes.

Mehr Tod ins Leben! scheint überhaupt ein geheimes Anliegen der Ausstellung zu sein, die offenbar in den sonstigen Mediatisierungen des Körpers Bedeutung vermißt. Die Analytikerin und Linguistin Julia Kristeva wird im Ausstellungskatalog um ein Statement zu den Exponaten gebeten und meint: „Mein Gesamteindruck ist, daß wir noch nie in einem solchen Zustand von Krise und Fragmentarisierung waren; das gilt sowohl für den Künstler selbst als auch für das ästhetische Objekt [...] Wenn man in diesem Zustand von Abjektion ist, von Selbstekel und Ekel vor anderen, steht die Autonomie oder Substanz des Subjekts in Frage. Es ist kein Zufall, daß wir eine solche Ausstellung nach dem Fall der Mauer und der Krise revolutionärer Bewegungen sehen [...] Was hier zu sehen ist, sind kathartische Objekte mit einer Verbindung zu Tod, Gewalt, der Leiche, dem fragmentierten und dem weiblichen Körper – überhaupt allen Dingen, die eine feste Struktur bedrohen könnten.“

Unter solcherlei düster-gravitätischen Prämissen verwundert es nicht, wenn im Zentrum der „Rites of Passage“ eine Arbeit von Joseph Beuys aus dem Jahr 1985 mit dem Titel „Erdbeben im Palazzo“ steht. Sie gehört zu dem Apokalyptischsten, was Beuys je gemacht hat und paßt entsprechend zu dem Wunsch der Ausstellung, auch die Passage in das 21. Jahrhundert zu markieren, nicht als emphatischen Neuanfang wie beim letzten Mal, sondern vor allem als Tod des Zuendegehenden. Womöglich ist der Arbeit anzumerken, daß Beuys sie zusammenstellte, als er nur noch eine Niere hatte, und der von Schrapnellsplittern belagerte Körper mitunter nur noch im Stehen Schlaf fand. Ein Glasturm, den er in der Mitte eines Raumes aufgebaut hatte, war zusammengebrochen. Reste von irgendeiner Art organischen Materials sind zu sehen, dahinter Möbel, die einen ansehen wie Bettler, ein halb zerfallener Beistelltisch mit zwei Blumentöpfen, die aufeinander balancieren. Links dann aber plötzlich, das Ganze irgendwie noch prekärer machend, balanciert ein pferdartiges Holzgestell auf vier Einmachgläsern. Obenauf – ein Ei. Man sieht sozusagen den Zustand nach dem Schlag zugleich mit dem Davor und dem Immerwährenden. Ein eigenartig belebtes Bild von Ungleichzeitigkeit – viel erratischer, als die Ausstellung selbst es lesen möchte.

Wo von Körpern die Rede ist, sind die Männer und die Frauen nicht weit. John Coplans, Mitbegründer der Zeitschrift Art Forum und ursprünglich Maler aus dem Dunstkreis des abstrakten Expressionismus, stellt eine fantastische Serie von Riesenselbstporträts, „A Body of Work“ vor, die den Körper eines nackten, alten Mannes in Posen und Form eines griechischen Freskos präsentieren. Als letztes kommt man auf die von Coplans selbst angesprochene „Body-Politics“ und das amerikanische Tabu von „Oldness“. Sehr viel eher lösen sich Behaarungsform, Faltenwurf, Torso in Rohrschachmuster auf; man denkt plötzlich eher an Land Art, an Erdformationen, irgend etwas, das sich in Jahrtausenden umwirft und umgräbt, nichts Abstraktes, aber auch nichts Fotografisch-Ephemeres. Körper ist überall.

Dem Gruselzugriff eines intelligenten Wachsmuseums nicht unähnlich, will die Ausstellung natürlich auch ein bißchen erschrecken. Das paßt zur Memento-mori-Haltung und hat ihr einige der schönsten Stücke verschafft. Die französisch-amerikanische Bildhauerin Louise Bourgeois hat hinter Durchblick gewährenden Klappholzwänden das Schlafzimmer ihrer Eltern und ihr eigenes Kinderzimmer verborgen. „Red Rooms“: Es schwant einem was, wenn man über dem roten Bett mit dem „Je t'aime“-Kissen eine gefüllte rosa Blase in undefinierbar organischer Form hängen sieht. Nebenan im Kinderzimmer türmen sich rosa- rot-violette Garnrollen – hat Dornröschen sich gestochen, oder will sie jemand anderen stechen. Fragmentierter Körper im Psychodrama – draußen vor den Türen liegen Bourgeois' Wachshände, die anders als Dürers irgendwie verlegen ineinandergreifen, eine Wanne voller Brüste, die sich feindselig gegeneinanderdrängen, und ein Paar herrenloser Füße.

Ganz dem Drama überlassen ist der Besucher in einem dunklen Raum von Bill Viola, in dem nur alle Minuten mal das körpergroße Bild eines Menschen aufflammt. „Aufflammt“ ist genau das Wort, mehr ist es nicht, man hört dann noch, wie er oder sie sich bemerkbar zu machen versucht; aber bevor man die Erzählung bekommt, nach der es einen immer dringlicher verlangt, ist das Bild wieder verschwunden. Ein Mann in Baseball-Mütze, eine Frau in einem weißen Pullover, die den Arm hebt – hatte sie einen Unfall? Das ist nicht lustig wie der Geist aus Aladins Wunderlampe, das ist eher eine Art Interferenz im weißen Rauschen, ein letzter Gruß aus dem Fegefeuer.