Der liberale Kapitalismus ist alternativlos

■ Der Philosoph und frühere Oppositionelle G. M. Tamás über das Comeback der ungarischen Sozialisten, deren WählerInnen und einen möglichen Rechtsruck im Land

taz: Herr Tamás, wie fühlen Sie sich, wenn Sie sehen, daß Ihre ehemaligen Feinde oder zumindest Ihre ehemaligen Gegner, die Sozialisten, wieder an der Macht sind?

Tamás: Wir haben für die Freiheit gekämpft, und das Volk hat diese Freiheit genutzt, um seine alten Herren wiederzuwählen. Das ist ironisch.

Noch ironischer ist doch aber, daß die Sozialisten in einer Koalition mit Ihrer Partei sind, der Partei der ehemaligen Oppositionellen, dem Bund Freier Demokraten.

Ich war für die Koalition, ich halte sie für richtig. Es gibt keine Alternative zum liberalen Kapitalismus und zur jetzigen wirtschaftlichen Reformpolitik. Den ungarischen Sozialisten ist aus der Zeit der Reformkommunisten zweifellos ein positives Erbe geblieben. Eine emanzipatorische Tradition kann man ihr nicht ganz absprechen. Deshalb liegt eine gewisse Logik darin, daß die Liberalen mit den Sozialisten eine Koalition eingegangen sind. Um so mehr, als sowohl die Kommunisten als auch die Liberalen Erben der Aufklärung sind und so einen Dialog führen können. Es ist kein Zufall, daß die wirkliche kapitalistische Entwicklung nicht nur in Ungarn, sondern auch in Polen von den Sozialisten vollzogen wird. Das ist so, weil in diesen Ländern die aufklärerische Tradition und die Modernisierung nur von der Linken vertreten wird. Mir gefällt das nicht, aber es ist so.

So ungeteilt scheint die Modernisierungsfreude bei den Sozialisten aber nicht zu sein. Es gibt unter ihnen viele Politiker, die für weniger Reformen und für mehr starken Staat eintreten.

Die Sozialisten haben die Wahl mit einer Kampagne gewonnen, die ohnegleichen in der Geschichte ist. Sie haben einfach nichts gesagt, nichts, nichts. Sie haben lediglich das Wort „Sachverstand“ gebraucht, und das war erfolgreich. Die osteuropäische Ideologiefeindlichkeit, der Amoralismus sind so groß, daß nur derjenige große Teile der Gesellschaft hinter sich bringen kann, der sich von jeglicher moralischen und ethischen Politik abgrenzt, die irgendwie an sozialistische Utopien erinnert. Die Sozialisten haben heute keine Ideologie, und das hält sie zusammen. Sie sind Anhänger einer schrittweisen Entwicklung. Im übrigen stimmen sie im großen und ganzen mit jenen demokratischen Gemeinplätzen überein, mit denen auch alle anderen übereinstimmen.

Dennoch haben die Sozialisten bei den Wahlen vor einem Jahr riesige Hoffnungen geweckt. Jetzt beschweren sich alle, wie schlecht es ist und daß die Sozialisten doch etwas anderes versprochen hätten.

Nein, das stimmt nicht ganz. Die Ungarn haben für die Sozialisten gestimmt, weil sie die Nationalisten und ihre Regierung endlich loswerden wollten. Die Sozialisten hatten das Glück, daß die ehemalige Regierungspartei, das Ungarische Demokratische Forum (MDF), gesagt hat: mit denen nicht. Die Leute dachten, die Sozialisten sind die einzigen, die sichern können, daß das MDF nicht zurückkommt. Den Nationalismus hassen die Ungarn am meisten. In diesem Land kann sich die große Rhetorik zum Teufel scheren. Wer ist denn der Wahlgewinner? Der kleine Gyula Horn, verbittert, schlecht gelaunt, ein grauer Mensch: den mögen die Ungarn.

Ihrer Meinung nach besteht also nicht die Gefahr, daß der wirtschaftliche Sparkurs zu einem Rechtsruck führen wird, wenn es den Sozialisten nicht gelingt, innerhalb der nächsten Jahre eine sichtbare Verbesserung der sozialen Lage zu erreichen?

Ein Rechtsruck im Sinne eines schrecklich einfachen Populismus ist vorstellbar. Der Unterschied ist: Die Nationalisten sagen, Ungarns Übel ist Trianon (Im Vertrag von Trianon verlor Ungarn 1920 zwei Drittel seines Territoriums; d.Red.), was hier konstant nur zwei Prozent der Leute wirklich interessiert. Die Populisten wettern gegen den Internationalen Währungsfonds. Die Vergangenheit ist ihnen egal.

Zurück zur Koalition. Sie haben in einem vielbeachteten Essay vor einigen Monaten ihre Partei dafür kritisiert, daß sie ihre Tradition als liberale Bürgerrechtspartei aufgegeben hat. Stehen Sie immer noch zu dieser Einschätzung?

Ja, was die Menschenrechte anbelangt, da sehe ich die Politik der Regierung mit Besorgnis. Die Führer des Polizeiapparates sind genau die alten Stalinisten von früher, obwohl ihnen ein liberaler Innenminister vorsteht. Das Gesetz über die Staatsgeheimnisse, was jetzt verabschiedet wurde, enthält Elemente des Totalitarismus. Damit kann fast alles zum Staatsgeheimnis erklärt werden. Unser liberaler Innenminister hat das Gesetz ins Parlament eingebracht, nachdem sein Apparat es vorbereitet hatte. Vielleicht hat er es nicht einmal gelesen, jedenfalls denkt er nicht darüber nach, daß es den Traditionen seiner Partei widerspricht. Der SZDSZ als Partei der ehemaligen Dissidenten schweigt dazu.

Gibt es keine Diskussionen innerhalb des SZDSZ darüber?

Doch natürlich, mein Essay über den SZDSZ vom 23. März hat einiges ausgelöst. Es gibt im SZDSZ kleine Gruppen, die sich mit Menschenrechtsarbeit beschäftigen. Die anderen Teile der Partei verhalten sich demgegenüber aber gleichgültig. Als in Österreich Roma ermordet wurden, waren der Staatspräsident, der Kanzler und so weiter beim Begräbnis anwesend. Als in Ungarn ein Roma ermordet wurde, ging von der Regierung niemand hin. Das Unglaublichste daran ist, daß die Sozialisten es durchaus dulden würden, wenn der SZDSZ eine ernsthaftere Menschenrechts- und Freiheitsrechtspolitik betreiben würde, wie es seinen Traditionen entspricht.

Ist für die Freidemokraten die Macht jetzt also wichtiger als die alten Ideale?

Ich glaube jedenfalls nicht, daß die Liberalen aus der Koalition aussteigen werden. Wenn die Sozialisten moralischer werden und die Liberalen noch etwas von ihrer bisherigen politischen Moral aufgeben, dann können sie sehr gut zusammenarbeiten. Interview: Keno Verseck