Auf dem Weg zu einer sanften Restauration

Ein Jahr nach dem Antritt der Regierung Horn steht Ungarn vor der härtesten Zerreißprobe der letzten fünf Jahre / Das Programm zur Reform der Wirtschaft ist teilweise verfassungswidrig / Die Bevölkerung ist demokratiemüde  ■ Von Keno Verseck

Ungarns sozialistischer Regierungschef Gyula Horn hat die Lust am Regieren verloren. Er macht den Eindruck eines alten, müden Landesvaters, der immer unverschämtere Untergebene ertragen muß und dem die Geschäfte mehr und mehr aus der Hand gleiten. In der Radiosendung „168 Stunden“ klagte Horn kürzlich verbittert darüber, was er in den „Parlamentssitzungen an jedem Dienstag alles schlucken“ müsse und wie auf ihm „herumgetrampelt“ werde: „Wenn ein geeigneter Kandidat gefunden wird, dann übergebe ich meinen Posten leichten Herzens. Heute in Ungarn Ministerpräsident zu sein, ist keine Freude.“

Zwar würde Horn als Ministerpräsident kaum zurücktreten und schon gar nicht „leichten Herzens“. Zu sehr hat er sich den Posten gewünscht. Ein geeigneter Nachfolger ist nicht in Sicht. Während Horns Rücktrittsangebot so getrost als Beispiel seiner häufig impulsiven Rhetorik gelten kann, verbirgt die Bemerkung über die Freudlosigkeit des Regierens einen alarmierenden Ernst.

Nach einem Jahr Amtszeit der sozialistisch-liberalen Koalition steht Ungarn vor der härtesten Zerreißprobe der letzten fünf Jahre. Das Wirtschaftsreformprogramm der Regierung ist in Teilen für verfassungswidrig erklärt worden und schon im Anfang steckengeblieben. Es stößt bei der überwältigenden Mehrheit der Ungarn auf völlige Ablehnung. Innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) will ein großer Teil der Abgeordneten die Reformen zumindest in ihrer „harten“ Variante nicht akzeptieren. Mehrere Minister traten im Streit um das Reformprogramm zurück. Hinzu kommen ständige Auseinandersetzungen der Sozialisten mit dem kleineren Koalitionspartner, dem liberalen Bund Freier Demokraten (SZDSZ). So hat es oft den Anschein, als ob Horn weder in der eigenen Partei, bei den Sozialisten, noch im Kabinett oder bei Koalitionsgesprächen über die notwendige Autorität verfügt, um die Konflikte zu lösen.

Vor einem Jahr, als die neue Regierung am 15. Juli ihr Amt antrat, klang alles noch ganz anders. Euphorisch hatten die Sozialisten den „Beginn eines neuen Zeitalters“ verkündet. Mit „Sachverstand“ wollten sie „das Land in Ordnung bringen“. Denn zur Hinterlassenschaft der vorherigen Regierung gehörten unter anderem ein Auslandsschuldenberg von 26 Milliarden Dollar, ein riesiges Haushaltsdefizit und eine Inflationsrate von knapp 20 Prozent.

Bis vor kurzem war vom „Sachverstand“ der Sozialisten allerdings wenig zu spüren. Acht Monate, bis zum 12. März, hat es gedauert, bis die Regierung ein erstes Sparprogramm vorlegte, mit dem die Reformen begonnen werden sollten. An diesem Tag verkündete Finanzminister Lajos Bokros seine unter dem Namen „Bokros-Paket“ bekannt gewordenen Stabilisierungsmaßnahmen. Für die meisten Ungarn ist der 12. März seither als Schwarzer Sonntag in die Geschichte eingegangen.

Denn auf Bokros' Liste stehen vor allem Maßnahmen, die die Bevölkerung hart treffen: eine kontinuierliche, gleitende Abwertung des Forint, Steuererhöhungen, Kürzung der Löhne im öffentlichen Dienst, Streichung staatlicher Beihilfen wie Familien- und Kindergeld, Bezahlung von Arztbesuchen und Arzneimitteln. Ziel ist, das Haushaltsdefizit in diesem Jahr um 170 Milliarden Forint (knapp 2 Milliarden Mark) zu senken.

Nach zweieinhalb Monaten heftiger Debatten im Parlament machte das Verfassungsgericht Bokros jedoch einen Strich durch die Rechnung: Vor zwei Wochen, am 30. Juni, erklärte es Teile des als „Stabilisierungsgesetz“ verabschiedeten Bokros-Pakets für verfassungswidrig, so etwa die Streichung der staatlichen Familien- und Kinderbeihilfen. Dies bedeutet eine Mehrbelastung für den Haushalt von 30 bis 40 Milliarden Forint in diesem Jahr.

Das würde weniger schwer wiegen, ginge es nicht ums Prinzip. Also darum, Ungarn von seiner „chronischen Krankheit“ zu heilen, nämlich dem auf Dauer nicht finanzierbaren Wohlfahrtssystem und dem überdimensional aufgeblähten Staats- und Verwaltungsapparat. So hat die Entscheidung des Verfassungsgerichts vor allem symbolischen Wert und übt eine politische Signalwirkung aus. Bestätigt fühlt sich nun jener Großteil der 209 sozialistischen Abgeordneten, die im Parlament vergeblich versuchten, eine mildere Version des Bokros-Pakets durchzusetzen, und nur unter dem starken Druck der Regierung der Vorlage zustimmten.

So rächt sich für die Regierung die „Verankerung der Sozialisten in allen gesellschaftlichen Schichten“, mit der sie vor einem Jahr die Wahlen gewinnen konnte. Es gibt nationalistisch eingestellte sozialistische Politiker, Ex-Funktionäre aus den kommunistischen Gewerkschaften und dem einstigen Parteijugend-Verband, ehemalige LPG-Vorsitzende und Betriebsdirektoren, Künstler und Arbeitslose, die „keine gemeinsame Vision, sondern nur verschiedene Interessen haben“, wie manche MSZP-Abgeordnete bedauern.

Die mit den Sozialisten verbündeten Gewerkschaften etwa drohen immer wieder mit der „Kündigung des sozialen Friedens“. Tatsächlich hat sich unter den Ungarn eine bisher beispiellose Ablehnung der Wirtschaftsreformen breitgemacht, die sich in Apathie, Wut und Verzweiflung äußert. In diesem Frühjahr fanden die größten Streiks und Demonstrationen seit fünf Jahren statt.

Erschreckend ist auch die gegenwärtige Demokratiemüdigkeit der Ungarn, die laut Umfragen einen Höhepunkt erreicht hat: Während die allermeisten Menschen die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage als höchst dringlich ansehen, spielen der Ausbau der Bürgerrechte und die Sicherung der Presse- und Meinungsfreiheit nur für einen verschwindend geringen Teil eine Rolle.

Dabei mehren sich gerade hier die Anzeichen einer „sanften Restauration“. Bereits im letzten Herbst beschwerte sich Horn, daß Fernsehen und Radio nicht objektiv über die Regierung berichteten. Von weiteren verbalen Angriffen auf die Medien sah Horn zwar ab, doch der Entwurf des Mediengesetzes sieht eine starke Kontrolle von Fernseh- und Radiosender durch die Regierung vor.

Auch sonst zeigen die Sozialisten nicht gerade ein besonders offenes und demokratisches Bewußtsein. Ein kürzlich verabschiedetes Geheimhaltungsgesetz bietet die Möglichkeit, amtliche Akten ab Anfang der achtziger Jahre, selbst zu Forschungszwecken, auf Jahrzehnte hinaus zu sperren. Außerdem legte ein Parlamentsausschuß jüngst einen Geheimdienstskandal ad acta: Die vorherige Regierung hatte in mehreren hundert Fällen illegal Politiker und öffentliche Persönlichkeiten bespitzeln lassen. Der Ausschuß, der den Skandal untersuchte, stimmte dafür, die Affäre ohne politische Konsequenzen für die Verantwortlich von damals zu beenden.

Doch im Bereich der Bürgerrechte braucht sich Horn nicht um die Bilanz nach einem Jahr Regierung zu sorgen. Der Koalitionspartner SZDSZ arbeitet kräftig an der „sanften Restauration“ mit (siehe untenstehendes Interview). Die Medien empören sich gar nicht erst darüber. Und laut einer Meinungsumfrage sehen ganze sieben Prozent der Befragten die Sicherung der Presse- und Meinungsfreiheit als vorrangig an. Ein Drittel meint gar, die Regierung kümmere sich zuviel darum.