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■ Vom Nutzen historischer Analogien fürs ÜberlebenSpaniens Himmel ...

Nach dem Fall von Srebrenica und jetzt, anläßlich des Angriffs auf Žepa, fehlt es „bei uns“ nicht an der Rhetorik des Entsetzens, der das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht auf dem Fuß folgt. Aber kaum jemand spricht aus, daß es genau jene Rhetorik war, die die westlichen Demokratien gebrauchten, als sie in den dreißiger Jahren erst die spanische Republik und dann die Tschechoslowakei ihrem Schicksal überließen. Einer der wenigen, der die Katastrophe von Srebrenica in den angemessenen historischen Rahmen stellte, war Richard Holbrooke, US-Unterstaatssekretär für Europa. „Die Situation in Bosnien“, sagte der Diplomat, „stellt den größten kollektiven Fehlschlag des Westens seit den dreißiger Jahren dar.“

Im Haus des Henkers spricht man nicht vom Strick. Deshalb werden solche Analogien gemeinhin als primitiv und demagogisch zurückgewiesen. Schließlich herrscht in Bosnien ein Bürgerkrieg, an dem alle irgendwie schuld sind, und außerdem ist Karadžić nicht Hitler, nicht mal Franco. Gerade diese Gleichstellung des Aggressors mit seinem Opfer war es, die in den Dreißigern dafür sorgte, daß die aufgewühlten Emotionen sich glätteten und die Nichtinterventions- beziehungsweise Appeasementpolitik ihren Lauf nahm.

Nicht irgendwelche anonymen Zuträger, sondern Zeugen mit Namen und Adresse haben bekundet, daß junge Frauen von der bosnisch-serbischen Soldateska aus den Flüchtlingsbussen gezerrt wurden. Unbestritten ist auch, daß alle männlichen Zivilisten aus Srebrenica zwischen 16 und 60 festgehalten werden. Nach den Erfahrungen von 1992 ist es so gut wie sicher, daß viele von ihnen zu Opfern von Kriegsverbrechen werden. Unsere Regierungen waren es, die diesen Menschen in sechs Zonen Bosnien-Herzegowinas Sicherheit versprachen. Sie haben ihr Versprechen genauso gebrochen wie die Staatsmänner des westlichen Europas in den dreißiger Jahren. Sie haben ein zweites Mal versagt – und wir mit ihnen.

Mag sein, daß Chiracs Initiative zur Befreiung Srebrenicas nichts als ein Manöver ist, um sich moralisch zu salvieren. Aber bei aller berechtigten Kritik an seiner großmachtchauvinistischen Nukleartest-Politik – wäre es nicht das einzig Richtige, ihn hier beim Wort zu nehmen? Wäre eine Initiative zur Verteidigung wenigstens Goraždes, Bihać' und Sarajevos nicht die einzige Alternative zum vollständigen UNO-Abzug und damit zu einer endlosen Verlängerung des Krieges? Chirac ist ein Konservativer, weshalb, was er sagt, für die Linken nicht zählt. Darf man daran erinnern, daß ein ungleich größerer – Winston Churchill – ebenfalls Konservativer war? Und daß es sein Kampf gegen die Appeasement-Politik in den dreißiger Jahren war, dem die Linken sich – allzu spät! – anbequemten? Christian Semler

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