■ Beliebte Löcher im EU-Käse
: Schweizer Lufthoheit

„Die Schweizer brauchen sich um ihre Stellung in Europa keine Sorgen zu machen. Europa entwickelt sich in ihre Richtung.“ Zu diesem selbstgerechten Schluß kommt Paul Widmer in einem Artikel in der Neuen Züricher Zeitung vom 11. März 1995. Der Abgeordnete Christoph Blocher, Unternehmer, Nationalrat und prominentester EU-Gegner in der Schweiz, ist da ganz anderer Meinung. Seit sich die Schweizer Bevölkerung 1992 nur mit hauchdünner Mehrheit gegen einen Beitritt zur EU ausgesprochen hat, ahnt er eine Verschwörung. In einer Inseratenkampagne warnen er und seine Schweizer Volkspartei, daß linke und andere „heimatmüde“ Parteien das Land doch noch irgendwie in die EU führen wollen.

Die Auseinandersetzung über eine europäische Integration ist in der Schweiz immer noch weitgehend ein Duell zwischen Fundis und Realos. An den Stammtischen und in der „classe politique“ wird über „Optionen“ diskutiert. Drei stehen zur Auswahl: ein Alleingang mit bilateralen Verhandlungen mit der EU-Kommission, ein zweiter Anlauf in den bisher ebenfalls von der Bevölkerung abgelehnten Europäischen Wirtschaftsraum und schließlich ein neuer Versuch, doch noch in die EU einzutreten. Mehrheitsfähig scheint zur Zeit keine einzige.

Schadenfreudig nehmen die eher euroskeptischen Schweizer zur Kenntnis, daß in Europa die Interessen über die Ideale gestellt werden. Die Tendenz zum „Europa à la carte“, in dem jeder nach Lust und Laune an der Währungsunion, an Schengen oder Europol teilnimmt oder es eben bleiben läßt, wirkt entspannend auf die verfahrene EU-Diskussion in der Schweiz. Ein Europa, in dem die Ausnahmen zur Regel werden, entspricht voll und ganz traditioneller schweizerischer Politikauffassung. Die Schweiz profitiert schließlich auch von der Stabilität, die von der EU ausgeht. Aber vom mühsamen Tagesgeschäft möchten sich viele fernhalten. Europäischer Pragmatismus, wie er bei der Vorbereitung der Reform des Maastrichter Vertrages zutage tritt, bei gleichzeitigem Abschied von der bundesstaatlichen EU-Utopie, läßt Schweizer Herzen höher schlagen.

Wohliges Herzflattern verursachte bei vielen SchweizerInnen auch eine Studie der Uni Zürich, die zu dem Schluß kommt: „Die EU hat ihren Zenit überschritten.“ Diese wissenschaftliche Erkenntnis ist ein nahezu ideales Mittel, mit dem die Gegner einer EU-Integration ihre Lufthoheit über den heimatlichen Stammtischen verteidigen können. Dennoch scheinen die Bodentruppen unter Führung von Bundespräsident Kaspar Villiger Terrain gutzumachen; er erinnerte kürzlich daran, daß man möglicherweise mehr Souveränität bewahre, wenn man dort mitredet, wo die Entscheidungen fallen, anstatt sich immer nur anzupassen. Denn die in Brüssel aufgestellten Regeln für die europäische Wirtschaftspolitik gelten längst auch in der Schweiz, ob die Schweizer das wollen oder nicht. Hilmar Gernet

Der Autor arbeitet in Brüssel als Korrespondent Schweizer Zeitungen