Bonschen oder Luftballons?

■ taz-Heimatkunde (2): Delmenhorst, ein Städtchen wie aus dem Musterkatalog der Mittelzentren/ Tiptop und auf dem allerneuesten Stand: Fußgänger- und Tempo-30-Zonen

Zu den schönen Bräuchen der zivilisierten Völker gehört es, den Wilden oder sonstwie Unterentwickelten der Welt beim Antrittsbesuch mit einer Handvoll Glasperlen aufzuwarten. Nicht so in Delmenhorst!

Hier dreht man den Spieß einfach um. Kommt ein Trupp hochrangiger Reisender in den Ort, auf der Suche nach der einfachen Landbevölkerung mit ihren malerischen Bräuchen, so werden die Fremden selbst – kaum, daß sie die üblichen Mitbringsel in Anschlag bringen können – mit den wunderbarsten Souvenirs überhäuft. „Luftballons oder Bonschen?“ heißt es im Verkehrsamt; schon prasselt beides in die Jackentaschen der Gäste. Einwegkugelschreiber werden den Fremden fröhlich ans Revers gesteckt – alles geschmückt mit dem sportiv-dynamischen „Delmenhorst verbindet!“-Emblem, eine Art stilisierter Wasserstrahl, der zwar etwas aus der Bahn und Form geraten scheint, sich dafür aber umso putziger auf Ballons und Bonschen kringelt.

Delmenhorst kann man eben nichts vormachen. Die Stadt verfügt über pfiffige Hochglanz-Prospekte („Ein schönes Stück Norddeutschland“), über ein Erlebnisspaßbad, eine tiptop geleckte Fußgängerzone und mehrere Tempo-30-Zonen. Sei's auf dem Gebiet der Verkehrserschließung, sei's auf dem Gebiet der Renaturierung: Delmenhorst tut alles, um als Musterstadt in den Musterkatalog der norddeutschen Mittelzentren einzugehen. Und sei es gegen die zagen Einwände der eigenen Bevölkerung.

Allein der „Delmenhorst verbindet!“-Kringel: Nicht nur zeitgeistig gestyltes Symbol für Fortschritt und Aufschwung und was sonst noch an quirligen Assoziationen daherrauscht, sondern auch eleganter Fingerzeig in die Geschichte bzw. aufs Geschichtsbewußtsein Delmenhorsts selbst. Nämlich: Der kringelige Wasserstrahl verweist glasklar auf – Wasser. Wasser, wie es sich seit ehedem durch Delmenhorst kringelte. Die gräfliche Wasserburg, 1247 begründet, stand am Anfang und zugleich im Zentrum des berühmten Delmenhorster Wassernetzes. Ring um Ring zogen die Wassergräben ihre Kreise um die Burg – locker und völlig zu Recht hätte Delmenhorst damals Bremen den Rang des „Venedig des Nordens“ ablaufen können. Zwei Graften immerhin umplätschern heute noch die Burginsel; der Rest ist Stadtplanung.

Die Burg selbst nebst zugehörigem Lustgarten sind wohlverwahrt. Gleich zwei Vitrinen spendierte man im Rathaus, um in solide gebastelten Modellen die alte Wasser- und Gartenpracht der Stadt für ewig auszustellen.

Die schöne Tradition der Wasserläufe übernehmen heute Verkehrsadern, welche Delmenhorst allseits durchströmen. Wer, aus der Fremde kommend, schon hämevoll auf Kopfsteinpflastergassen wartet, auf denen der Reisende rumpelnd, pumpelnd und fluchend ins Dorf hereinzuckeln muß – der wird noch weit vor dem Ortseingangsschild von der Delmenhorster Tüchtigkeit überrascht. Zwei Autobahnanschlüsse nennt die Stadt ihr eigen (zum Vergleich: Mannheim hat auch nicht mehr, New York gar keinen). Von dort führen Einfallstraßen vierspurig in die Vorstadt. Werkstätten des Kraftfahrzeug-handels säumen fürsorglich in großer Zahl die Trassen; trutzig, ja: neckisch harrt die Fahrschule Thalmann zwischen den modernen Autohäusern ihrer Kundschaft. Das „Autohaus Leichtkauf“ lockt mit „Leichtkaufraten“; auch eine „Imo“-Waschstraße steht Gewehr bei Fuß. Kurz: Verkehrsplanung auf höchstem Niveau.

Daß eine Stadt nicht allein durch Verkehrsbeschleunigung, sondern neuerdings auch durch Verkehrsberuhigung an Attraktivität gewinnt – auch das wird in Delmenhorst aufs Exemplarischste vorexerziert. Noch die ruhigsten Wohnstraßen sind mit erstklassigen optischen Bremsen u.a. Schikanen aus der Beruhigungsforschung gleichsam abgedämmt. Der Erfolg: Kaum ein Auto schafft es, in die Fußgängerzonen einzudringen; allein der sog. Yuppie-Boulevard, die jüngste und schickste aller Fußgängerzonen, ist halbamtlicherseits für abendliche Motorschau- und Balzkämpfe der Delmenhorster Jugend freigegeben. Eine Chance für die Liebe – da kann zehnmal Ruhezone sein! Delmenhorster Lebenslust läßt sich eben nicht mit städtebaulichen Maßnahmen kanalisieren.

Überhaupt: die Fußgängerzone! Hier braucht selbst der Weithergereisteste nicht auf den gewohnten Komfort zu verzichten. Ja: Es scheint, als habe die Stadt alle Segnungen der Zivilisation wie in einem Setzkasten versammelt. Die Düfte von „Douglas“, der Schick von „Schreiber“, der Reichtum von „Quelle“ – alles findet hier seinen rechten Platz. Früh haben die Stadtplaner offenbar mit der Marotte aufgeräumt, alte und wahrscheinlich innerlich längst verschimmelte Bauwerke aufs Geratewohl zu erhalten. Dergleichen nostalgischer Schnickschnack hat z.B. in der FGZ „Lange Straße“ keine Chance. Es ragen zwar noch hier und da keck die Giebel alter Bürger- und sogar Bauernhäuser ins Stadtbild. Die Erdgeschosse aber sind samt und sonders längst dem Fortschritt freigeräumt.

Eine einzige Bombe, so raunen Einheimische dem Fremden zu, fiel gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf Delmenhorst. Einige Tote waren zu beklagen, eine Schule ging zu Bruch. Den großen Rest der Altstadt aber hat Delmenhorst, das muß man einmal anerkennen, eigenhändig entsorgen müssen. Bester Delmenhorster Standard: das alte Bürgerhaus in der Langen Straße, dem man in Form einer Breitwand-Leuchtreklame („Kettler-Moden“) einen Riegel vorgeschoben hat; im Erdgeschoß prangen weitgespannte Glasflächen, hinter denen Folklore-Kostüme zu reduzierten Preisen feilgeboten werden. Da wirkt benachbarte „Einhorn“-Apotheke mit ihrer Original-Jugendstilfassade schon reichlich fehl am Platze.

So geht es Laden um Laden eindrucksvoll weiter. Passagen schließen sich an, die unbeirrbar auf Kundenparkplätze führen. Der Boden ist durchgehend wetterfest versiegelt. Aber auch wasserfest. Wasser, das Elixier Delmenhorster Lebens – ausgesperrt aus der eigenen Innenstadt? Gemach – auch hier gibt es längst neue, zeitgemäße oder doch fast zeitgemäße Lösungen.

Von jungen Linden umstanden präsentiert sich so z.B. der Rathausplatz. Vor 15 Jahren schon begann man hier mit dem Renaturierungsprogramm. Seither sind die Linden leider nicht weit gekommen, wie Mitarbeiter des Städtischen Gartenamts dem Reisenden gern näher erläutern: „So sehen doch keine Linden aus“, heißt es dort, und mit raschen Handgriffen sind dann die tatsächlich etwas dürren Ärmchen abgesägt. Inmitten der versiegelten FGZ sei eben nicht gut Gedeihen. „Wenn jeder, der hier sitzt, ein Bier in die Erde schütten würde ...“ – aber wer tut sowas schon?

Seither setzt Delmenhorst auf pflegeleichte Lösungen. Ordentliche Pflanztröge und sogar echte Findlinge setzen in einer Art romantischen Stillebens natürliche Akzente in der City. Im „Ratskeller“, dessen Fassade längst säuberlich verziegelt ist, serviert man dazu „Seelachsfilet natur“. Dem Wasser selbst hat man auf der Bade- und Freizeitinsel „Delfina“ (“... find' ich prima“), gleichsam als Kompensation zur ausgedienten Burginsel, ein hübsches Reservat geschaffen.

Damit nicht genug: Das letzte Bächlein, das unscheinbar durch die FGZ gluckert, wird heuer durch kleine Staustufen wieder in Wallung gebracht. Mit den nun wohl allerneuesten Tricks stadtgestalterischer Animationstechnik läßt Delmenhorst das Wasser fröhlich sprudeln und malerische Blasen werfen, auf daß es sich wahrhaftig kringeln möge; dann verschwindet das heitere Rinnsal unter der nächsten Überführung wieder im Orkus. Es handelt sich, wie der City-Stadtplan ausweist, um die Delme selbst. Thomas Wolff