Der Zahnpasta-Schmalz-Wurst-Coup

■ Kleine, aber laute Fische: Ein Monat Haft für eine Sozialhilfeempfängerin, die Waren für 22,50 Mark geklaut hat / Mit Geschrei die Geduld des Gerichts auf die Probe gestellt

„Das sind alles Handlanger des Staates“, schimpft Sybille K. vor dem Gerichtssaal. „Hoffentlich klappt das wenigstens mit deiner Lehrstelle“, sagt sie zu ihrer Tochter. „Aber das interessiert das Gericht nicht. Hauptsache, die sitzen in ihren Bungalows.“

Die 45jährige Sozialhilfeempfängerin Sybille K. soll im November letzten Jahres eine Zahnpastatube, Schmalz und Wurstwaren in einem Supermarkt in Kreuzberg gestohlen haben. „Wieso stehe ich für 22,50 Mark vor Gericht?“ fragt sie den Richter empört. „Ich habe an der Kasse bezahlt und den Bon draußen weggeworfen“, beteuert sie ihre Unschuld. „Dann kam der Detektiv auf die Straße. Wenn ich das gestohlen habe, wieso hat er mich nicht gleich an der Kasse festgehalten?“, will sie vom Richter wissen.

Der Detektiv Andreas B. kann sich nur noch vage an den Zahnpasta-Schmalz-Wurst-Coup erinnern: „Ich weiß nur noch, sie hatte was in den Beutel gesteckt.“ Dann habe sich die Angeklagte „eine urste Story“ ausgedacht. Sybille K. wird immer ungehaltener: „Wie hätte ich denn den Bon aus dem Papierkorb holen sollen?“ brüllt sie den Richter an. „Der hat mich mit Gewalt festgehalten und in den Supermarkt reingezerrt“, erregt sie sich. „Sie haben mir nicht an die Sachen zu gehen“, gibt sie dem 29jährigen Detektiv klipp und klar zu verstehen. „Wenn Sie sich weigern, in die Filiale zu kommen, darf ich Sie reinschieben“, rechtfertigt sich dieser. In einem kurzen Moment des Innehaltens zwischen Angeklagter und Zeugen kommt auch der Richter wieder zu Wort und gibt dem Detektiv Recht – sehr zum Mißfallen der Angeklagten. „Ich hätte auch zuschlagen können“, sagt sie trotzig.

Die Geduld des Richters hängt an einem seidenen Faden. Mit Contenance verliest er das lange Vorstrafenregister der Angeklagten, das jede Menge Geldstrafen und sogar Haftstrafen auf Bewährung wegen Diebstahls enthält. Als der Staatsanwalt sein Plädoyer beginnt, fällt ihm die Angeklagte sofort ins Wort. „Das ist nicht wahr, das ist eine Lüge“, schreit sie ihn an. Mit Mühe und Not kann der Staatsanwalt für das „einschlägige Delikt unter Bewährung“ eine einmonatige Haftstrafe ohne Bewährung beantragen. „Aussage gegen Aussage. Ich habe nicht gestohlen. Sie dürfen mich nicht einsperren“, schreit Sybille K. Die Beherrschung des Richters wird auf eine harte Probe gestellt. Wieder erhebt Sybille K. Anspruch auf das letzte Wort: „Ich habe nicht gestohlen“, schreit sie.

In diesem Moment reißt der richterliche Geduldsfaden. Der Richter verläßt den Raum. Nach einer Minute hat er sich gesammelt und erteilt der Angeklagten das gesetzlich vorgeschriebene letzte Wort. Sybille K. ist überzeugt, daß sie verurteilt wird, weil sie sich als Sozialhilfeempfängerin keinen Anwalt leisten kann. „Ich habe nicht geklaut und werde verurteilt“, beansprucht sie weiter ihre Stimmbänder. Der Richter bittet sie, für die Urteilsverkündung aufzustehen. „Ich stehe nicht auf“, ruft Sybille K., „ich bin unschuldig!“ Nach Androhung von Ordnungshaft vernimmt sie dann doch im Stehen das Urteil: ein Monat Freiheitsentzug ohne Bewährung. Barbara Bollwahn