Es gebe keinen Hinweis auf eine ausländerfeindliche Tat, sagte der Stuttgarter OB Rommel nach einem Großbrand im März 1994 mit sieben Toten. Gestern wurde der mutmaßliche Täter präsentiert. Motiv: „Haß auf Ausländer“ Von Philipp Maußhardt

Der späte Erfolg der Staatsanwälte

Es war die schlimmste Brandkatastrophe in Stuttgart seit dem Krieg.

Am 16. März 1994 starben in der Stuttgarter Altstadt sieben Menschen durch einen Großbrand. In dem von ungefähr 50 Ausländern bewohnten Haus in der Geißstraße 7 war gegen 3.30 Uhr im Treppenhaus ein Feuer ausgebrochen und hatte sich schnell auf alle fünf Stockwerke ausgebreitet. Unter den Toten waren zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren, deren beide Mütter und weitere drei Erwachsene. Gestern nun wurde gegen einen 25jährigen Deutschen Haftbefehl wegen siebenfachen Mordes erlassen. Ihm werden insgesamt siebzehn Brandanschläge in Baden-Württemberg zur Last gelegt. Als Motiv gab er für fast alle Fälle „Haß auf Ausländer“ an. Ein erstes Geständnis, das Haus in der Geißstraße angesteckt zu haben, hat der arbeitslose Mann allerdings inzwischen widerrufen. Dennoch hält die Staatsanwaltschaft an ihrem „dringenden Tatverdacht“ fest.

Der Brand in der Geißstraße war in der Nacht von einer Polizeistreife entdeckt worden, als das Treppenhaus bereits in Flammen stand. Die meisten standen an den Fenstern oder hatten sich auf das Dach geflüchtet und riefen um Hilfe. Eine 57jährige Kroatin sprang in Panik aus dem zweiten Stock und starb noch auf dem Straßenpflaster. Im gleichen Stockwerk starb eine 24jährige Griechin mit ihrer zweijährigen Tochter. Auch einer im neunten Monat schwangeren Türkin, 27 Jahre alt, gelang die Flucht nicht mehr. Sie erstickte ebenso wie ihre vierjährige Tochter. Im vierten Stockwerk starben eine 55jährige Kroatin und ihr 60jähriger Ehemann. Sechzehn Menschen mußten teilweise schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht werden.

Noch am selben Tag teilte Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel erleichtert mit: „Gott sei Dank“ gebe es keine Hinweise auf eine ausländerfeindliche Tat. Der Verdacht der Polizei fiel auf Drogensüchtige, die sich häufig im Eingangsbereich des Hauses aufhielten. Doch ein Täter konnte nicht ermittelt werden. Sechzehn Monate nach der Katastrophe glaubt die Polizei nun den Brandstifter zu kennen: ein 25jähriger arbeitsloser Mann aus dem benachbarten Esslingen.

Auf die Spur des mutmaßlichen Täters kam ihm eine Sonderkommission der Esslinger Polizei. Dort waren zwischen April und Juni diesen Jahres mehrere von Ausländern bewohnte Häuser angezündet worden (siehe Chronik), wobei nur durch Zufall kein Mensch zu Schaden kam. Kurz nach den Anschlägen wurden Bekennerschreiben an die Stadtverwaltung und an die Esslinger Zeitung geschickt – ausgerissene Zeitungsartikel, versehen mit Hakenkreuzen und der Aufschrift: „Kanaken raus“. Weil solche Briefe kurze Zeit nach den Anschlägen immer auch an den Tatorten ausgelegt wurden, hatte die Polizei Videokameras installiert und dabei in der Nacht zum 30. Juni einen jungen Mann kontrolliert.

Er gab die Brandanschläge in Esslingen sofort zu.

Die Häuser hatte der Brandstifter zum Teil gezielt ausgesucht. Weil er Ende des vergangenen Jahres bei einer Schlägerei mit türkischen Jugendlichen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof leicht verletzt wurde und ihm das Urteil des Jugendgerichts dafür zu milde erschien, steckte er das Wohnhaus eines der beteiligten Jugendlichen in der Esslinger Fabrikstraße in der Nacht zum 9. April an. Zufällig entdeckte eine Polizeistreife den Brand und konnte alle 18 Bewohner evakuieren. Das dreistöckige Wohnhaus brannte völlig ab. Die Adresse hatte sich der Täter ganz einfach aus dem Telefonbuch beschafft.

Im Verlauf der Vernehmungen kam den Ermittlern der Verdacht, der Esslinger Brandstifter könnte auch für die Stuttgarter Brandkatastrophe verantwortlich sein. Er habe auf diesen Vorwurf „nach anfänglichem Zögern eingeräumt“, teilte gestern nun der leitende Oberstaatsanwalt Dieter Jung in einer Pressekonferenz mit. Obwohl er sein Geständnis inzwischen zweimal widerrufen hat, erhält die Staatsanwaltschaft ihren Vorwurf aufrecht. „Er hatte Detailkenntnisse“, so Jung, über deren Inhalt der Staatsanwalt aber noch schweigt. Zur Zeit sitzt der Verdächtige in Stammheim in Untersuchungshaft und schweigt.

Trotz der Angabe des 25jährigen, aus Ausländerhaß gehandelt zu haben, betonte Jung gestern, für die Tat in der Stuttgarter Geißstraße noch „kein ausländerfeindliches Motiv“ erkennen zu können. Dies werde erst in der anschließenden Brandserie in Esslingen deutlich. Auch für die ersten Brandstiftungen im Jahr 1993 in Rottweil und in Villingen/Schwenningen gebe es keine Hinweise auf einen ausländerfeindlichen Hintergrund. Gezielt habe der Mann erst ab April 1995 in Häusern von Ausländern Feuer gelegt.

Polizei und Staatsanwaltschaft sprechen von einem „psychisch labilen“ Täter. Es gebe keinerlei Hinweise darauf, daß der Mann in Neonazikreisen verkehrt habe oder Kontakte zu rechtsradikalen Gruppen hatte.

In seinen ersten Vernehmungen begründete er seinen Haß auf Ausländer unter anderem durch seine gescheiterte Ehe mit einer Ausländerin. Er hatte die Frau über eine Vermittlungsagentur kennengelernt.

Der von der Polizei als „Einzelgänger“ und „bindungslos“ bezeichnete Mann lebte bis zu seiner Festnahme bei einem kirchlichen Mitarbeiter in Esslingen. Der hatte ihn bei sich aufgenommen, nachdem er den Arbeits- und Wohnungslosen auf der Straße kennengelernt hatte. Abends hielt sich der mutmaßliche Täter, der seit seiner Entlassung aus der Bundeswehr keinen Job mehr hatte, häufig im Rotlichtmilieu in Esslingen und Stuttgart auf. Auch das Haus in der Stuttgarter Geißstraße liegt gleich in der Nachbarschaft von Nachtlokalen.

Eigentümer des unter Denkmalschutz stehenden Jugendstilhauses war zum Zeitpunkt des Brandes die Stuttgarter Hofbräu AG. Sie hatte das Gebäude für monatlich rund 15.000 Mark an einen Kroaten verpachtet, der die Zimmer und Wohnungen zu überhöhten Preisen an Ausländer weitervermietete. Die hohen Mieten wiederum waren der Grund, warum einzelne Zimmer mit bis zu vier Personen, vorwiegend Pakistani ohne Aufenthaltsgenehmigung, belegt waren. Die nach dem Brand gegenüber der Hofbräu AG erhobenen Vorwürfe führten schließlich dazu, daß das Haus inzwischen an die neu gegründete „Stiftung Geißstraße“ überschrieben wurde. Zur Zeit wird das Haus renoviert. Im Erdgeschoß soll eine Begegnungsstätte „Café International“ entstehen, die darüber liegenden Wohnungen werden sozial schwachen Mietern zur Verfügung gestellt.