Point 'n' click
: Letztes Jahr im Computerspiel

■ Museum der Wiederveröffentlichungen jetzt auch für Bildschirmnovellen: Zum Beispiel „The 7th Guest“

Henry Stauf ist wahnsinnig. Oder er hat zu viele Agatha- Christie-Krimis gelesen. Die Sorte, in denen eine illustre Schar Oberschichtsangehöriger zu einer Weekendparty aufs Land eingeladen wird, wo dann einer nach dem anderen gemäß den Versen bizarrer Rätselgedichte um die Ecke gebracht wird. Henry Stauf ist Spielzeugfabrikant. Die von ihm produzierten Puppen und Plüschtiere haben allerdings einen dämonischen Nebeneffekt: Die glücklichen Besitzer versterben nach kurzer Zeit auf mysteriöse Weise. Mit seinem Vermögen erfüllt sich Stauf seinen größten Traum: eine eigene Gruselvilla mit allen Schikanen, vollgestopft mit heimtückischen Fallen, unterirdischen Gängen, rückwärtslaufenden Uhren – und Knobelaufgaben.

Hier kommst du ins Spiel. In Augenperspektive streifst du durch die Hallen des riesigen, im gepflegten Landhausstil à la Roderick Usher eingerichteten Anwesens. Die verschollenen Partygäste sind noch als geisterhafte Schemen präsent. Die Ereignisse der Schreckensnacht laufen wie Szenen eines holographischen Films ab – mosaikartig ergibt sich ein Bild des Geschehens ...

Als „The 7th Guest“ vor knapp zwei Jahren auf den Markt kam, war die Erwartung groß, versprach doch das Spiel – eines der ersten komplett für den neuen Massendatenträger CD- ROM konzipierten Adventures – nichts weniger als einen Blick in die Zukunft des Genres. Die optische und akustische Präsentation war tatsächlich brillant: Solche hochauflösenden Graphiken von 3D-Interieurs hatte man noch nie gesehen. Es gab jede Menge in die Schauplätze eingebundenen Videosequenzen, einen orchestralen Soundtrack und Sprachausgabe satt.

Die perfekte Illusionsmaschine – soeben zum Bargain- Preis in der White-Label-Reihe von Virgin Interactive wieder aufgelegt – hatte nur einen Haken: Der Spielwitz konnte mit der opulenten Verpackung kaum mithalten. Jetzt, wo die gerade mal ein paar Jahre alte Computerspielindustrie bereits begonnen hat, sich eine Art Backkatalog zuzulegen, wird das besonders klar: Dichte Gruselatmosphäre einerseits, eingeschränkte Interaktion andererseits. Der Spieler wird auf Schritt und Tritt vom Programm gegängelt. Selbst die Wege durch die Stauf-Villa sind vordefiniert. Bloß hie und da darf man einen gruseligen Effekt auslösen, etwa ein Gemälde zum Eigenleben erwecken oder ein Tischgedeck zum Karussellfahren bringen.

Computer-Adventures leben von der Suggestion, in den Handlungsverlauf einer Geschichte eingreifen, nicht-lineare „Erzählfelder“ nach eigenem Gutdünken erforschen zu können. In „The 7th Guest“ ist aber alles schon passiert, die Ereignisse sind als Geister-Videos in der Stauf-Villa abrufbar. Diese ist gewissermaßen Cyberspace und getarnter Videorecorder zugleich: Löst man eins der in den 22 Zimmern installierten Rätsel – fast ausnahmslos mehr oder weniger hübsch aufbereitete klassische Denksportaufgaben –, wird zur Belohnung ein weiterer Filmschnipsel abgespielt.

Der Legende nach bestanden die ersten Adventures, die es je für den Computer gab, aus nichts als einem Koordinatengitter, durch das der Spieler – auf der Suche nach einem „Monster“ – endlos verzweigte. Am Anfang der Idee einer interactive novel stand sozusagen das narrative Blanko: Nichts passierte, außer unablässiger Fortbewegung. In „The 7th Guest“ schlägt die geometrisch-starre Grundstruktur aller Computer-Adventures wieder voll durch; die Schnittpunkte eines Verzweigungsgitters sind hier mit 3D-Animationen, Videoeinspielungen, Kamerafahrten besetzt. Virtual Reality entpuppt sich gewissermaßen als netzwerkartiges Nebeneinander beeindruckender audiovisueller Welteffekte. Streckenweise wirkt „The 7th Guest“ wie ein von Roger Corman im Stile seiner Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen inszeniertes Remake von Robbe-Grillets/Alain Resnais' „Letztes Jahr in Marienbad“, Die Welt ist ein Labyrinth bedeutungsleerer Erscheinungen an der Oberfläche; Erzählung nichts als unsinnige Bewegung durch den (erinnerungslosen) Raum: „Wieder – gehe ich, wieder diese Flure entlang, durch diese Säle, durch diese Galerien, in diesem Bauwerk aus einer anderen Zeit ... Reihen von Türen, von Galerien, Fluchten von Fluren – die wieder in leere Salons führen ...“ Ulrich Hölzer

CD-ROM „The 7th Guest“ (Virgin Interactive/ The White Label). Unverb. Preisempfehlung: 24,95 DM.