Die Müllfrauen von Cúcuta

Während kolumbianische Regierung und deutsche Entwicklungshilfe die Frauenförderung entdeckten, gründeten die Frauen von Cúcuta eigene Kollektive  ■ Aus Cúcuta Jutta Lietsch

„Ich habe dem Bürgermeister einen Brief geschrieben und klipp und klar erklärt, daß er die Verantwortung zu tragen hat, wenn es eine Katastrophe gibt“, sagt Maria Teresa Rodriguez und drückt ihren breitkrempigen Hut noch fester auf den Kopf. „Wir sind im Müll fast erstickt, die Kinder wurden immer kränker, und nichts passierte.“ Dann geschah doch etwas: Maria Teresa gründete mit 13 anderen Männern und Frauen ein Müllsammlerkollektiv für Los Patios, einen Vorort der kolumbianischen Halbmillionenstadt Cúcuta. In einem Vertrag mit der Stadtverwaltung verpflichteten sie sich, den Abfall von 50.000 Menschen in ihrem Bezirk zu entsorgen – gegen eine feste Bezahlung durch die Stadt.

Heute, fünf Jahre später, bringen sie täglich vierzehn Tonnen Unrat auf die Müllkippe. Die Straßen in diesem Viertel, in dem sich die Armut hinter den bunten, manchmal blumengeschmückten Fassaden der kleinen einstöckigen Reihenhäuschen versteckt, sind sauber. Die Mitglieder der Gruppe verdienen rund 200 Mark im Monat, was dem gesetzlichen Mindestlohn entspricht, und sie können bei Krankheit und Notfällen auf einen gemeinsam zusammengesparten Sozialfonds zurückgreifen. Im kleinen Hof hinter der Zentrale des Unternehmens, wo Kartons und Flaschen an der Wand gestapelt liegen, parken am Abend die zwei Traktoren der Gruppe; einer ist bereits ganz, der andere fast abbezahlt.

Fünf solcher Müllkollektive gibt es heute in Cúcuta. Ihre MitarbeiterInnen – vierzig Prozent sind Frauen – waren früher arbeitslos oder Tagesmütter und HändlerInnen mit sehr niedrigem und unsicherem Einkommen. Die Kollektive bedienen insgesamt 250.000 Menschen in den Randbezirken der Stadt, dort, wo sich die städtischen Müllfahrer früher so selten sehen ließen.

Als Maria Teresa von der Geschichte des Kollektivs und ihren weiteren Plänen erzählt, und als ihre Worte dabei fast unaufhaltsam hervorsprudeln, flüstert ihre Nachbarin etwas von einem Wunder. Denn nicht lange vor der Gründung des Kollektivs zählte Maria Teresa noch zu den Elendsten der Stadt, lebte mit ihren Kindern auf der Straße, ohne Perspektive. Sie war, wie viele BewohnerInnen von Cúcuta, vom Land in die Stadt gekommen: geflüchtet vor den Auseinandersetzungen zwischen Militärs und Privatarmeen der Drogenmafia oder den verschiedenen Guerillagruppen. Nicht Armut, sondern die Angst vor der Gewalt vertrieb – und vertreibt – die DorfbewohnerInnen vom Land. Das ist im übrigen ein Phänomen, das für ganz Kolumbien zutrifft (wo heute bereits drei Viertel der Menschen in der Stadt leben), nicht nur für die Grenzstadt Cúcuta, von der man fast bis nach Venezuela spucken kann. Wie Maria Teresa kommen vielen der Frauen mit Kindern irgendwann die (Ehe-)Männer abhanden.

Vom Handel über die Grenze lebten die Menschen in Cúcuta seit jeher, ebenso wie von den Überweisungen der Verwandten, die im ölreichen Venezuela Arbeit gefunden hatten. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang des Nachbarlandes aber trockneten diese Einkommensquellen immer mehr aus. Viele kehrten zurück und blieben in der Stadt hängen. Doch hier gibt es nichts zu tun. Die Schuhfabrik bietet nur wenigen Arbeit. Es bleibt den meisten nichts anderes übrig, als sich mit ein bißchen Handel von Tag zu Tag zu hangeln. Die Frauen können noch versuchen, sich als Hausangestellte bei denen zu verdingen, die besser gestellt sind.

An den Rändern der Stadt Cúcuta entstehen immer neue Siedlungen. Jeden Tag besetzen mehr Familien ein Stück Boden und bauen eine provisorische Hütte, die bald durch ein Steinhaus ersetzt werden soll. Doch die Gewalt, vor denen die Neuankömmlinge geflohen sind, gedeiht auch in diesem Klima der Armut und Hoffnungslosigkeit.

In der Gesundheitsbehörde der 1,2 Millionen Einwohner-Region Norte de Santander, deren Hauptstadt Cúcuta ist, verweist man auf eindrucksvolle Statistiken: Im vergangenen Jahr wurden hier 800 Menschen ermordet. Nach Infektionskrankheiten ist die Gewalt zweithäufigste Todesursache. Und für Menschen zwischen 15 bis 45 Jahren ist sie sogar an erste Stelle aller Todesursachen gerückt. „Hör auf, immer nur auf das viele Sterben bei uns zu starren!“ sagt die Soziologin Myriam Gutiérrez, die über zwanzig Jahre als Sozialarbeiterin gearbeitet hat, zunächst in der Organisation von Landfrauen und später in der Nationalen Planungsbehörde. Und sie spricht fast beschwörend von der „Lebenslust und Energie der Frauen, die ihre Familien am Leben erhalten.“

Gutiérrez hat gerade ein Buch über die Lage der kolumbianischen Frauen geschrieben – die von einem bemerkenswerten Riß gekennzeichnet ist, der die Gesellschaft klar zwischen unten und oben teilt. Oben, da sind die Frauen der reichen Familien. Es gibt wenige Länder, in denen sich so viele hochqualifizierte Frauen in politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Spitzenpositionen befinden. Unten aber, auf dem Lande und in den Mittelschichts- und Armenvierteln der Städte, gibt es für Frauen kaum eine Möglichkeit, die traditionellen Barrieren zur durchbrechen.

Myriam Gutiérrez arbeitet heute in einem Frauenprojekt, das von der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) unterstützt wird. Entstanden war das Projekt namens Proequidad („Für die Gleichberechtigung“) Anfang 1992. Die damalige kolumbianische Regierung hatte gerade eine neue Verfassung auf den Weg gebracht, die eine Dezentralisierung und Privatisierung der staatlichen Institutionen vorsah.

Vor allem betonte die Verfassung eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an der Entwicklungsplanung des Landes und hob ausdrücklich die Partizipation der Frauen hervor. Wohlwollende MitarbeiterInnen in Regierung und Verwaltung unterstützten die Forderung nach mehr Rechten und Hilfe für Frauen. Ende 1992 verabschiedete der Ministerrat erste Leitlinien für die Frauenpolitik der Regierung: Künftig sollten die Interessen der Frauen in allen Bereichen der nationalen Planung berücksichtigt werden. Aber wie?

Beteiligt an der Formulierung dieser Leitlinien war die von der GTZ entsandte deutsche Regierungsberaterin Barbara Hess. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen von Proequidad begann sie, für interessierte MitarbeiterInnen der kolumbianischen Planungsbehörden, an Universitäten und mit SozialarbeiterInnen Fortbildungsworkshops zu veranstalten. Die Schlüsselworte hießen „Gender- Analyse“ und „Gender-Training“. Alle Beteiligten sollten in die Lage versetzt werden, in ihrem Bereich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen und Interessen von Frauen und Männern zu erkennen und entsprechend zu handeln.

Doch es war nicht nur die Offenheit der kolumbianischen Regierung, „Entwicklungshilfe“ in Sachen Frauenförderung zu akzeptieren, die Barbara Hess zu ihrem GTZ-Job verhalf. Auch in Deutschland war die Kritik an der Praxis der Entwicklungsorganisationen immer schärfer geworden. Im Eschborner Hauptquartier der staatlich finanzierten Entwicklungsbehörde war man Ende der achtziger Jahre zur Einsicht gekommen, daß die GTZ selbst noch überwiegend frauenpolitisches Ödland war. Nicht nur, daß der Anteil der Frauen in den obersten Etagen der GTZ selbst höchst gering war (er liegt heute nach Angaben der Organisation bei 14 Prozent). Vor allem waren die EntwicklungsexpertInnen noch meilenweit davon entfernt, in allen Projekten die spezifischen Interessen der Frauen zu berücksichtigen. Das hatte die Bundesregierung 1988 zwar in ihren entwicklungspolitischen Leitlinien gefordert, die Einlösung ließ jedoch stark auf sich warten.

Schließlich stellte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zusätzliche Sondermittel in Höhe von knapp einer Million Mark zur Verfügung. Davon finanzierte die GTZ das kolumbianische Projekt von Barbara Hess ebenso wie zwei weitere frauenpolitische Pilotprojekte in den Philippinen und im Nahen Osten. In Kolumbien sollte die GTZ-Expertin als Regierungsberaterin in der nationalen Entwicklungsplanung des Landes arbeiten.

Zugleich sollte Barbara Hess ihr scharfes Frauenauge auf bestehende Projekte werfen, in denen die deutsche Organisation schon seit längerem tätig ist. Dazu zählt die Zusammenarbeit mit der regionalen Gesundheitsbehörde von Cúcuta, welche die Müllsammler ebenso wie die Gründung von Apothekenkollektiven und lokalen Krankenstationen unterstützt. Dazu gehören auch Umweltschutz- und Aufforstungsvorhaben in den Bergen und an der Küste und die Beratung der lokalen Planungsbehörden, die seit der Dezentralisierung für die Dorfentwicklung zuständig sind.

Der Erfolg von Projekten wie den Müllsammlerkollektiven von Cúcuta macht es den Frauen von Proequidad leicht, bei den Leuten in den Armenvierteln der Stadt ein offenes Ohr zu finden, glaubt die Sozialarbeiterin Zoraida Pinto, die im Basisgesundheitsprogramm der Stadt arbeitet. „Nein“, sagt sie, „den Erfolg meiner Arbeit kann ich nicht genau messen“. Und dann schaut sie die Müllsammlerin Maria Teresa an und strahlt. Die lüftet zum ersten Mal den Hut, zeigt auf ihren kurzgeschnittenen dunklen Schopf, durch den sich graue Strähnen ziehen: „Ich bin vierzig – meine grauen Haare zeigen dir, daß ich die Jahre gelebt habe.“ Sie hat gerade ihr Abitur gemacht.