Apathie und Resignation

Die politische und kulturelle Opposition in Serbien ist zersplittert. Und Milošević macht unabhängigen Gruppen das Leben schwer.  ■ Aus Belgrad Ursula Ruetten

Äußerlich ist die serbische Hauptstadt Belgrad heute noch viel mehr als zu Beginn des Krieges eine völlig friedlich wirkende Stadt. Der Alltag scheint fast so normal wie in jeder anderen osteuropäischen Großstadt, seitdem vor eineinhalb Jahren ein neuer Nationalbankchef die in Millionenprozenten gemessene Hyperinflation gebändigt hat. Die Belgrader Kommune ist auf Investitionen in schnieke neue Konsumtempel und auf Ordnung bedacht. Die Müllabfuhr funktioniert. Die Verkehrspolizei ist rührig. Falschparker werden gnadenlos abgeschleppt. Geschäftig patrouilliert die Miliz und kontrolliert die Ausweispapiere junger Männer. Schätzungsweise 6.000 bis 7.000 wurden in den letzten Wochen Opfer eines spektakulären „Kidnappings für die Front“, nämlich für die bosnische „Republik Serbien“ und die „Serbische Republik Krajina“.

Betroffen von derartigen Verschleppungen von der Straße oder aus Unterkünften weg sind in erster Linie Flüchtlinge aus den bosnischen und kroatischen Kriegsgebieten, und zwar solche mit anerkanntem Flüchtlingsstatus, eingebürgerte Serben, aber auch Serben, die in Bosnien oder Kroatien geboren wurden oder die dort lediglich eine Zeitlang lebten. In einigen Fällen genügte es, ein Auto mit einem Kennzeichen aus jenen Kriegsgebieten zu chauffieren, um ebenfalls Opfer dieser Maßnahmen zu werden.

Öffentliche Proteste hat es nur in den unabhängigen Medien gegeben. Auch die parlamentarische Opposition hielt sich bedeckt. „Heute schafft es keine Partei und auch keine demokratische Bürgerbewegung mehr, nennenswerte Massen für ihre Sache auf die Straße zu kriegen“, zieht Miloš Nikoliš die nüchterne Bilanz der politischen Befindlichkeit der Belgrader Bevölkerung. „Natürlich ist das Volk kriegsmüde, aber sicher ist es auch politikmüde.“

Der emeritierte Philosophieprofessor hat langjährige Erfahrungen darin, über Wege und Umwege zur Demokratie – für ihn war dies stets ein demokratischer Sozialismus – öffentlich zu diskutieren. Viele Jahre leitete Nikoliš das Zentrum für Sozialforschung des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. Von den siebziger Jahren bis 1989 war er der Direktor der Internationalen Konferenz „Sozialismus in der Welt“, die im montenegrinischen Cavtat tagte. Nikoliš stand damit nicht nur im – tolerierten – Widerspruch zur herrschenden Politik Titos. Er vertrat auch andere Positionen als die hierzulande damals populäre marxistische Philosophen-Gruppe Praxis, die ihren dezidierten „Widerstand gegen alles Bestehende“ Mitte der siebziger Jahre mit einem kollektiven Berufsverbot für ihre Belgrader Mitglieder beenden mußte.

Inzwischen sind in Belgrad diese Hoch-Zeiten eines differenzierten systemtheoretischen Diskurses vorbei. Entscheidend für die politische und kulturelle Opposition ist heute eine einheitliche kritische Front gegen die herrschende Ideologie und deren politische Konsequenzen. Nun arbeitet Nikoliš Hand in Hand mit einigen der ehemaligen Mitglieder der Praxis-Gruppe in der außerparlamentarischen Opposition in Belgrad: mit Miladin Životić, Nebojsa Popov und Zagroka Golubović als führenden Mitgliedern in der neugegründeten Initiative „Bürgervereinigung für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Unterstützung der Gewerkschaften“. Dieser Kreis sucht mehr Anbindung an die Basis und eine Vernetzung aller demokratischen Kräfte. Und das tut not.

Natürlich halten die Intellektuellen in der Gruppe Belgrader Kreis zusammen und an ihren oppositionellen Standpunkten fest, auch wenn seit einigen Wochen nicht mehr wie sonst jeden Samstag Zusammenkünfte und Debatten im Haus der Jugend stattfinden. Die Saalmiete ist schlicht zu teuer geworden. Der Kreis mag finanzielle Probleme haben, zählt aber nach wie vor rund 400 Mitglieder. Resignation ist beim Besuch in den Büroräumen am Obilicev Venac indes zu spüren.

Vor allem junge Leute machen ihrer Enttäuschung Luft über das „Versagen“ vieler ihrer Vorbilder aus Kunst, Kultur und Medien: Diese hätten dem politischen und sozialen Desaster nichts entgegengehalten oder seien sogar ausgewandert. Die ehemalige Praxis- Gruppe ist gespalten. Ähnlich wie in Deutschland die Frankfurter Schule haben diese Philosophen und Soziologen schließlich eine ganze Generation kritischer Intellektueller im Tito-Jugoslawien geprägt. Životić, Golubović und Popov sind rührige Aktivisten in der außerparlamentarischen Opposition. Der andere Teil der Belgrader Gruppe hat sich durch sein Engagement in der Politik vollends um den guten Ruf gebracht.

Einer ihrer führenden Köpfe, der einstige Kampfgenosse von Nikoliš in einer Einheit von Titos Partisanenarmee, Mihailo Marković, ist der Chefideologe der Partei von Slobodan Milošević, des Präsidenten der auf Serbien und Montenegro zusammengeschrumpften Bundesrepublik Jugoslawien. Das dementiert Marković allerdings vehement. Er hat indes das Parteiprogramm formuliert und war vor wenigen Jahren ihr Vizepräsident. Svetozar Stojanović war engster Berater des geschaßten restjugoslawischen Staatspräsidenten Dobrica Ćosić. Ljubomir Tadić fiel auf durch seine nationalistisch unterfütterten Äußerungen, die sich sehr wohl in den Mainstream der Milošević-Propaganda einpaßten.

Zoran Djindjić, mit 43 Jahren der Jüngste aus dieser „Denkerschule“ der Kritischen Theorie, ist heute der Vorsitzende der Demokratischen Partei Restjugoslawiens. Sie zählt rund 40.000 Mitglieder. Djindjić ist also eine potentielle Alternative zu Milošević. Er hat seinen Vertrauensbonus in der jugoslawischen Öffentlichkeit noch nicht verspielt. Ob er mit seinem guten Aussehen, seinem jugendlichen Charme und seinem weltgewandten Auftreten die WählerInnen von Milošević abzieht, kann niemand kalkulieren.

„Fast alle Oppositionskritiker sind besser als Milošević, was nicht heißt, daß sie gut sind“, kommentiert Vera Konjović, Kulturmanagerin von Radio B92, „entscheidend ist, daß sie ihren Hut nehmen müssen, wenn sie Fehler machen. Sie müssen die Gewißheit haben können, daß sie etwas für ihre Wahl und ihre WählerInnen leisten müssen und nicht die Macht auf ewig garantiert haben.“

Ob Djindjić jedoch der richtige Mann ist, um Milošević die Stirn zu bieten, ist besonders aufgrund seiner Haltung zum Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, umstritten. Für Djindjić handelt es sich bei Karadžić nicht um einen Kriegsverbrecher, sondern um den „einzigen politisch legitimierten Vertreter der Republik Serbien als einer geordneten politischen, territorialen, militärischen, sozialen und wirtschaftlichen Einheit, die seit zwei Jahren existiert.“ Und: „Wir verhandeln mit jedem, der ein Faktor der Lösung sein kann. Wir sind dafür, daß man zunächst mal sagt: Um jeden Preis den Krieg beenden, und dann sehen wir, wer welche Schuld hat.“

Warum gibt es keine Interessenkoalition aller demokratischen Oppositionsparteien zum Sturz Miloševićs? Warum gibt es Eigenbröteleien und Abspaltungen sogar innerhalb der Serbischen Erneuerungspartei von Vuk Drašković oder der Demokratischen Partei?

Zoran Djindjić meint dazu: „Am Anfang standen wir großen Problemen gegenüber: dem Staatszerfall, der nationalen Frage, dem Niedergang der Wirtschaft. Man war mal für, mal wie jetzt gegen den Krieg: Milošević hat stets ein Problem gegen das andere ausgespielt und ist wechselnde Koalitionen eingegangen. Alle diese Entscheidungen über Frieden, Krieg, über den Prozeß der Auflösung Jugoslawiens wurden hier getroffen in einem politisch pathologischen System, und die Qualität dieser Entscheidungen war so niedrig, daß man natürlich diese Krise verschärft hat. Statt das System zu verändern, damit wir demokratische Institutionen bekommen“, so Djindjić weiter, „versucht man, die Qualität der Entscheidungen nachträglich dadurch zu verbessern, daß man Milošević unterstützt und sagt: Vielleicht kann ich ihn so besser beraten, und dann trifft er bessere Entscheidungen. Wir wären bereit, sogar mit den Sozialisten die Reformen durchzuführen, wenn sie bereit wären, das zu tun. Diese Reformen müssen bei den Medien anfangen, bei der Deregulierung der Wirtschaft, der Dezentralisierung der Gesellschaft. Wenn er bereit wäre, das mitzumachen, wobei er wissen müßte, daß er am Ende nicht die Macht hätte, die er jetzt hat, wäre das gut. Die Mehrheit des Volkes will die Veränderung, nur die Parteien, die sie vertreten, schwanken manchmal zwischen der Illusion, daß sie durch die Institutionen des pathologischen Systems das System verändern können, statt zu sagen: Das System ist kaputt, man muß es ersetzen.“

Svetozar Stojanović, Jahrgang 1931, steht nach eigenem Bekunden der Demokratischen Partei nahe. Er hat sich nach dem Rücktritt Ćosićs aus der Politik herausgezogen. Im Gespräch versucht er aus eigenem Antrieb noch einmal, die Person des umstrittenen, aber renommierten serbischen Schriftstellers Ćosić differenziert auszuleuchten und zu verteidigen. Dabei schwingen wenig kaschiert Resignation und Politikmüdigkeit mit, wenngleich er beides mehr von sich losgelöst festmacht. „Die politische Stimmung hier ist Apathie, Resignation, Hoffnungslosigkeit. Das ist natürlich immer gefährlich. Wenn man Resignation mit Hoffnungslosigkeit und Ärger kombiniert, dann gibt es immer eine kritische Masse, aber niemand kann sagen, wo die Grenze dieser kritischen Masse liegt. Deswegen habe ich mit Ćosić und Panić [Milan Panić war 1992 Ministerpräsident; d.Red.] gearbeitet. Wir haben versucht, die großen Veränderungen durch demokratische Mittel einzuführen, aber Milošević wollte das nicht. Milošević ist nicht imstande zu kooperieren. Er ist ganz einfach ein Autokrat.“

Stojanović hatte bis zu seinem Einstieg in die hohe Politik Anfang dieses Jahrzehnts ein praxisorientiertes, sozialdemokratisch fundiertes Konzept zur wirtschaftlichen und politischen demokratischen Umorganisation Jugoslawiens ausgearbeitet. Damit konnte er ruhigen Gewissens seine Beratertätigkeit für den jugoslawischen Staatspräsidenten aufnehmen. Von Milošević distanziert sich Stojanović nachdrücklich, aber mit Blick auf den Spielraum der Opposition und die Erwartungen des Westens an oppositionelle Parteien meint Stojanović: „Es ist absolut aussichtslos, in Serbien mit einer antiserbischen Politik Wahlen zu gewinnen. Man muß die serbischen Wahlen in Serbien gewinnen und nicht in Paris, Bonn, Berlin oder Washington. Ich glaube, daß die Politik im Zentrum hier eine Kombination von Demokratie und von nationalen Interessen sein müßte, und das ist immer schwer zu koordinieren.“

Die einzige Chance, der Welt ein anderes Serbien zu präsentieren, wozu es das Potential gebe, sieht Stojanović in der Aufhebung des paralysierenden Embargos, das nur die „bürgerliche Gesellschaft“ bestrafe und nicht das Regime, und in einer großen demokratischen Koalition.

Die Zeiten, Milošević über den Unmut in der Bevölkerung abzulösen, sind so schlecht wie schon lange nicht mehr. Wer von der Macht besessen ist und diese, koste es, was es wolle, behalten will, wird alles zu kappen versuchen, was die Restauration bremst oder was gar Innovationen nährt. Milošević ist von der Macht besessen, mehr als von nationalistischen oder imperialistischen Utopien. Und er ist ein kluger, taktisch geschickter Politiker. Jetzt weiß er sich national und international als Friedenspräsident in Szene zu setzen. Damit läßt er die demokratische Opposition im Lande mit ihrem Protest gegen den bisherigen chauvinistischen Kriegskurs im Regen stehen. Aber Milošević versucht darüber hinaus, „seine“ Hauptstadt für seine Sache – den Machterhalt und damit die Verhinderung demokratischer Reformen – immer fester in den Griff zu kriegen. Und dabei macht er sich noch nicht einmal so sehr die Hände schmutzig. Vieles, auch die internationalen Sanktionen, arbeitet ihm dabei zu.

Das Handelsembargo macht vor allem der Bevölkerung und den Kräften des Widerstandes sowie der überparteilichen politischen Alternative das Leben schwer: unabhängige Medien, unabhängige Gewerkschaften oder regierungsunabhängige Organisationen wie die jugoslawische SOROS-Foundation zum Beispiel. Ihre Mitarbeiter sind der politischen Willkür oder den Wucherpreisen auf dem Schwarzmarkt ausgeliefert, wenn sie etwa Papier oder Druckmaschinen oder auch Visa brauchen, um auf die Lage des real existierenden „Anderen Serbien“ aufmerksam zu machen.

Was Wunder, daß der politische Apparat die noch zu Zeiten des gesamtjugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Marković etablierte SOROS-Foundation derart attackiert, daß ihr Weiterbestehen stark in Frage gestellt ist. Nachdem eine wochenlange exzessive Pressekampagne nichts fruchtete, will man jetzt durch bürokratische Finessen dieser Drehscheibe für die Finanzierung und oft auch für die Logistik von Projekten für das Überleben eines kreativen und demokratischen Potentials in Serbien den Garaus machen. Serbien verweigert schlicht die Registrierung der Stiftung. Es will das rechtskräftige Abkommen mit der damaligen jugoslawischen Regierung nicht anerkennen.

„Was weiter wird, wissen wir nicht“, sagt die SOROS-Vorsitzende Sonja Licht. „Wir sind in der Stiftung alle bereit, zu kämpfen. Wenn es noch andere solche Institutionen gäbe, könnten wir uns leichter die Frage stellen, ob es diese Energien wert wären, aber es gibt so viele Gruppen und Individuen, die sich nicht nur wegen materieller Hilfegesuche an uns wenden. Ich sage aber immer: Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Die schlechte ist, daß die Stiftung wahrscheinlich aufgeben muß. Die gute ist, daß sie und andere demokratische unabhängige Initiativen in diesem Lande nicht mehr aufzuhalten sind. Denn sie hängen nicht mehr von uns ab; sie sind selbständig, selbstsicher geworden. Wir beobachten sogar das Wunder, daß neue unabhängige lokale Medien inzwischen überall in Serbien entstehen, daß neue Fraueninitiativen überall im Land entstehen, bis hin in den Süden Serbiens, zum Beispiel offene Krisentelefone für Frauen und Kinder, für Gewaltopfer. Das hat natürlich wieder zwei Seiten: Die schlechte ist, daß es soviel Gewalt gibt, daß wir das brauchen. Die gute ist, daß im Zentrum einer patriarchalischen, sehr konservativen Gesellschaft, die immer noch davon ausgeht, daß eine Frau dem Mann zu dienen habe, daß sich dort ein klassischer feministischer Widerstreit entfaltet, um das mal ganz klar auf den Punkt zu bringen.“