Vom Schwachsinn der Psychiatrie

Weil er „versehentlich“ für schwachsinnig erklärt wurde, verbrachte Klaus-Peter Löser neun Jahre in einer geschlossenen Anstalt. Eine halbe Million Mark soll das wiedergutmachen  ■ Aus Marburg Franz-Josef Hanke

Klaus-Peter Löser wirkte sichtlich gelöst, als der Prozeß vorbei war. Der 42jährige hat einen jahrelangen Kampf um die Anerkennung als Opfer deutscher Psychiatrie gewonnen: Mit einer halben Million Mark sprach das Marburger Landgericht ihm gestern das höchste Schmerzensgeld zu, das in Deutschland je eine Einzelperson bekommen hat. Dabei kann die Entschädigung Klaus-Peter Löser die verschenkten Jahre kaum ersetzen: Aufgrund einer Fehldiagnose habe Löser neun Jahre in einer geschlossenen Anstalt verbracht, urteilte das Gericht.

Vierzehn Jahre ist es inzwischen her, daß Löser durch puren Zufall von einer Gruppe Studenten aus dem Psychiatrischen Krankenhaus im hessischen Marburg-Cappel „befreit“ wurde. Einer der Studenten, die sich im „Marburger Psychiatrie-Beschwerdezentrum“ zusammengeschlossen hatten, war stutzig geworden, als er den relativ normal wirkenden Löser kennenlernte. Verrufen war das Krankenhaus ohnehin: Bis in die 80er Jahre regierte in Marburg-Cappel Professor Werner Eicke, der sich dort in den vierziger Jahren an der „Aussonderung lebensunwerten Lebens“ beteiligt hatte.

Wer Löser heute trifft, sieht auch vierzehn Jahre nach seiner Entlassung noch ein Opfer der Psychiatrie vor sich: Er leidet unter nervösen Bewegungsstörungen, kämpft mit seinem Alkoholproblem, kann kaum auf andere Menschen zugehen. Er ist abgemagert, oft abgelenkt, kann sich kaum länger konzentrieren. Bis heute ist es ihm nicht möglich, einer geregelten Arbeit nachzugehen.

Angesichts der Zwangsbehandlungen in Cappel wundert das nicht. Das Anstaltsleben habe Löser nachhaltig geschädigt, entschied auch das Gericht. „Kontraindiziert und überhöht“ war vor allem Lösers Behandlung mit Psychopharmaka. 2,3 Kilogramm Wirksubstanz hat er so im Laufe der Jahre in Form von Neuroleptika verabreicht bekommen. Umgerechnet in Pillen, verpackt in Glasröhrchen und Kartons, entspricht das einer Lastwagenladung von neun Tonnen.

Lösers Krankenhauskarriere begann früh. Seine Mutter war erst 16, als Klaus-Peter 1952 in der Nähe von Kassel geboren wurde. Ein Jahr nach seiner Geburt wurde sie mit Tuberkulose ins Krankenhaus eingeliefert. Kurze Zeit später mußte auch Klaus-Peter in die Klinik, erst wegen Bronchitis, dann wegen tuberkulöser Meningitis. Seitdem galt der Junge nicht als schwachsinnig. Seine Mutter heiratete 1960 einen Mann, der den Kleinen fast täglich verprügelte. 1965 schlug Klaus-Peter zurück. Seine Eltern lieferten ihn in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Hephata ein.

Von dort riß der Junge immer wieder aus. Ihn immer wieder zurückzuholen in die verhaßten Räume war teuer. Deshalb, so erklärte gestern der Gerichtsgutachters Professor Hinderk Emrich aus Hannover, sei Löser 1972 in das gut bewachte Psychiatrische Krankenhaus Marburg verlegt worden. Offiziell begründet wurde die Einweisung mit einer „Fremd- und Eigengefährdung“ sowie Imbezillität aufgrund einer „tuberkulösen Meningitis“. Von da an saß Löser fest.

„Grob fahrlässig“ nennt das Gerichtsurteil diese Einweisung. Die Gutachter hätten ihre Sorgfaltspflicht verletzt – nicht zuletzt, weil sie zwei Intelligenztests unberücksichtigt ließen, die den diagnostizierten „Schwachsinn“ eindeutig widerlegten. „Es war allen klar, daß er hier nicht hingehörte“, erklärte auch ein Professor aus Cappel bei der mündlichen Verhandlung am 10. Mai, gab aber auch gleich eine desillusionierende Erklärung dazu: „Es entstand ein Perpetuierungseffekt. Wer einmal in einer solchen Anstalt drin ist, der bleibt da!“ Wenn Löser sich an das Leben in Cappel erinnert, beginnt er noch heute zu zittern: „Weißt du, wie das ist, wenn man fixiert wird? Deine Arme und Hände werden ausgestreckt und festgebunden. Und wenn du dann noch den Bauchgurt kriegst, dann kannst du dich überhaupt nicht mehr rühren!“