Ein Brikett für eine Karte

■ Vom „Künstlertheater“ bis zu George Taboris „Theaterlabor“: Im Concordia wurde das interessanteste Kapitel der Bremer Theatergeschichte geschrieben

Mit einem langen, drei Tage währenden Kuß wurde Dornröschen zum Leben wiedererweckt. Als die freien Gruppen Bremens mit dem „Oh, Du Concordia...“-Programm um die schönste unter den Bremer Theaterspielstätten warben, galt ihre Leidenschaft an diesem heißen Juliwochenende auch der Bühne mit der aufregendsten Biographie. Nicht immer hatte die Concordia-Bühne so verstaubt vor sich hingedämmert, wie das in den letzten Jahren durch den nur sporadischen Spielbetrieb des Bremer Theaters der Fall war. Im Gegenteil, im Concordia wurde das interessanteste Kapitel der Bremer Theatergeschichte geschrieben. Einzelne Highlights dieses Experiments verbreiteten gar den Ruhm vom „Bremer Stil“ in der gesamten Republik. Mit dem Namen des Hauses verband sich der von George Tabori, der hier mit seinem Theaterlabor in den Jahren 1973 bis 1976 experimentierte. Als Theaterbühne wurde der markante Bau am Bahndamm bereits nach dem Kriege erobert. Das ausgediente Kino diente unter dem zeittypischen Namen “Das Künstlertheater“ als erste Nachkriegsspielstätte.

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Am Anfang war es kalt, eisig kalt. „Ich hatte lange Herrenunterhosen unter meinem langen leichten Novizenkleid“, weiß die damalige Schauspielschülerin Ingeborg Helms noch. “Es zog ja überall, und die Kälte war unser größtes Problem. Aber unter den Schauspielern war die Stimmung trotzdem enthusiastisch. An den Weihnachtstagen haben wir fünf Vorstellungen gespielt: das Weihnachtsmärchen und noch zwei weitere Vorstellungen für die Erwachsenen. Überhaupt haben wir hauptsächlich im Theater gelebt, draußen in der Stadt war eh alles grau und zerstört.“ Diese zeittypische Euphorie habe das Theater in den ersten Jahre nicht verlassen, auch wenn der Spielplan noch nicht das anspruchsvolle Niveau der Experimentalbühne erreicht hatte und man noch „quer durch den Garten“ spielte, was mit den vorhandenen Requisiten und Kostümen möglich war. Ingeborg Helms erinnert sich, daß Unterstützung auch von Leuten außerhalb des Theaters kam. „Da war zum Beispiel der Lokführer, der auf der Strecke immer ein wenig langsamer fuhr, wenn er am Künstlertheater vorbei kam. Es wurden dann ein paar Brocken Kohle vom Tender herabgeworfen, die diejenigen von uns Schauspielern, die nicht auf der Bühne standen, sofort sicherstellten. Dann konnte es weiter gehen.“

Wo heute die blaue „Theatercard“ in Scheckkarten-Format einen Hauch von Weltläufigkeit und Jet-Set verbreiten will, ging es damals viel handfester her. „Wer rein wollte, kam mit schweren und kostbaren Paketen unter dem Arm. An der Kasse stapelten sich die Briketts.“

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Als die Schauspieler die mittlerweile in „Concordia Filmbühne“ umbenannte Bühne zum zweiten Mal eroberten, da hatte sich die für die Nachkriegszeit typische Balance zwischen mühseliger Alltagsbewältigung und künstlerischem Anspruch völlig verschoben. Die Heizung im Concordia war sichergestellt, die Revolution konnte beginnen. Von Bremen aus wollte man die Bühnen der Welt erstürmen. Denn der Anspruch, mit dem die neue Experimentierbühne betrieben wurde, war nicht niedrig gehängt.

„Das Concordia stand für die ganz besonderen Aufführungen. Das war keine weitere Spielstätte, in der halt mal ein bißchen experimentiert wurde“, erinnert sich Dr. Ursula Menck. Die Bremer Ex-Moks-Leiterin war damals Dramaturgin am Bremer Theater. In den frühen siebziger Jahren habe es ja in der Theaterszene keine freien Gruppen gegeben, die etwa inhaltliche Anregung, gar avantgardistische Herausforderungen darstellten. Auf diesem Hintergrund kam der forschenden Theater-Arbeit ein besonderer Stellenwert zu. „Als Tabori kam, war die Idee, daß das Verhältnis von Publikum und Bühne untersucht werden sollte. Für ihn war die Raumbühne das Thema.“ Ein Interesse, mit dem er in der Concordiabühne ein geeignetes Untersuchungsobjekt gefunden hatte. Zuschauerraum und Bühne waren nicht fest definiert. Die Sitzreihen konnten neu arrangiert werden und so die Bühnenfläche auch von allen Seiten umrahmen. Das gab Anlaß, die ganze Spielsituation Schauspieler-Zuschauer neu auszuprobieren. Plötzlich war alles möglich: In einer legendären Inszenierung von Kafkas Erzählung „Der Hungerkünstler“ etwa saß das Publikum gar nicht auf festen Plätzen, sondern wandelte zwischen Käfigen umher. Das Resultat formaler Experimente, die in der inhaltlichen Arbeit ihr Gegenstück fanden.

Georg Taboris „Theaterlabor“ ging aufs Ganze. Ab 1973 hatte er Zeit, einen festen Raum und zehn Schauspieler, die nicht im abendlichen Spielbetrieb des Theaters antreten mußten, sondern für das Experiment freigestellt waren. Ideale Laborbedingungen, unter denen die Entstehung der seltenen Pflanze Kreativität zu beobachten war. In der entschiedensten Variante machte die Forscherneugierde der zehn Schauspieler auch vor der eigenen Psyche und dem eigenen Körper nicht halt. Als das legendäre Kafka-Projekt „Der Hungerkünstler“ sich in der Vorbereitung befand, begann das Schauspielerteam gemeinsam zu fasten. Die Gründe waren nicht politisch, sondern zeittypisch: Selbsterfahrung. Nach 40 Tagen Null-Diät schritt die Bremer Kulturbehörde ein und beendete das künstlerische Experiment am eigenen Körper mit den Argumenten des gesunden Menschenverstands. „Tabori wurde hier selbst erst zum Regisseur“, faßt Ursula Menck die förderliche Arbeitsweise zusammen. Dieses Experimentaltheater allerdings hatte es nicht immer leicht, sein Publikum zu finden. Ensemble-Mitglied Marietta Eggmann erinnert sich an das Warten auf das Publikum, wieder am Bahndamm, von dem dreißig Jahre zuvor schon die Kohlen herabgekollert waren: „Es fuhren in vertrauten Abständen Güterzüge vorbei. Wenn allerdings der Intercity nach Hamburg durchbrauste und ich immer noch wartete, war es kurz nach 20 Uhr und die Vorstellung verloren.“ Bald jedoch wußte man in Bremen die Experimentierbühne zu schätzen, die Vorstellungen waren gut besucht, und Inszenierungen wie „Siegmunds Freude“, die die Protokolle einer Gestalttherapie auf die Bühne brachte, wurden zu Festivals eingeladen und als das neue Theaterwunder aus Bremen gefeiert.

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Nach drei Jahren kam das Aus. Kultursenator Franke strich dem Theaterlabor das Geld: Es sei zu elitär. George Tabori ging nach Wien, die Bremer blieben mit einem leeren Concordia zurück. Zum Glück konnte das gerade aufblühende Bremer Tanztheater die empfindliche künstlerische Lücke füllen. Von 1978 bis 1986 gelang es Reinhild Hoffmann noch einmal, die luxuriöse große Bühne zu nutzen und das Publikum auf ihre Tanzstücke neugierig zu machen. Doch auch diese Phase war an die Figur der Choreographin gebunden. Wieder und wieder erweist sich der Raum als Herausforderung. Nicht nur wegen der Theatergeschichte, auch in der Raumwirkung ist die 13 mal 10 Meter große Bühne kein Spielfeld für Amateure. Wenn in der kommenden Saison mit der Unterstützung der Spielstättenförderung nun im Concordia ein neues Heimspiel gestartet wird, geht die Vorgeschichte mit in die Kalkulation ein. Nachdem das experimentelle Theater in den achziger Jahren von den freien Gruppen weitergeführt worden ist und es über lange Jahre einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen freien und etablierten Theaterleuten gab, deutet sich in dieser Spielzeit eine Wende an. Die Pflastersteine der Revolution werden heute als Briefbeschwerer genutzt. Nun macht es durchaus Sinn, die freien Gruppen in die nicht ganz genutzte Spielstätte zu holen. Das neue Experiment ist nicht mehr Taboris Theaterlabor, sondern ein Versuch mit zwei Forschern in einem Labor. Das Ziel aber ist und bleibt avantgardistisches Theater. Für das Bremer Concordia bedeutet das hoffentlich: das beste aus beiden Bereichen. Die Freien gaben mit einem dreitägigen Minifestival schon ihren Einstand. Im Bremer Theater steht zur Saisoneröffnung Withold Gombrowicz „Yvonne, Prinzessin von Burgund“ auf dem Spielplan. So hat man vor fast einem Vierteljahrhundert schon die erste Spielsaison des Concordia eröffnet. Susanne Raubold