Das Echo von Blut und Feuer kommt zurück

Japan gedenkt Hiroshimas: Erstmals wird über die Verbrechen der eigenen Armee gesprochen – über Angriffskrieg, Schreckensherrschaft und Vergewaltigung. Für die betroffenen Frauen gibt es nur einen mageren Hilfsfonds  ■ Von Georg Blume

Mit seinen „Thesen zum Atomzeitalter“ rief es Günther Anders allen zu: „Hiroshima ist überall.“ Wieder einmal könnte diese Losung aktueller denn je erscheinen, da China in diesem Jahr seine Atombombenversuche wiederaufgenommen hat und Frankreich sich anschickt, dem Beispiel zu folgen. Dennoch geht heute vielen Atomgegnern – besonders in Asien – die Mahnung an Hiroshima nicht mehr so leicht über die Lippen. Die Bedenken erklären sich leicht: Sie haben etwas mit der in vieler Hinsicht gescheiterten japanischen Vergangenheitsbewältigung zu tun.

Nur neun Tage trennen den ersten Atombombenabwurf in Hiroshima von der japanischen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg am 15.August 1945. Doch in der Erinnerung der meisten Japaner klafft zwischen beiden Ereignissen eine große Lücke. Während Hiroshima nach dem Krieg zum Symbol eines verfassungsrechtlich verankerten Pazifismus erhoben wurde, blieb der verlorene Krieg unter dem bis 1989 amtierenden Kaiser Hirohito ein Tabuthema. Bis heute ist dieser Widerspruch ungelöst. Japan huldigt einem Staatspazifismus, der sich zu den Kriegsverbrechen der eigenen Nation nicht bekennt.

Kaum einer hat unter Japans historischem Dilemma öffentlich mehr gelitten als der amtierende Premierminister Tomiichi Murayama. Als erster sozialdemokratischer Regierungschef seit über 45 Jahren trat Murayama seinen Dienst im vergangenen Sommer mit dem in einer Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen Versprechen an, das 50. Gedenkjahr des Kriegsendes im Zeichen der Reue und Versöhnung verstreichen zu lassen. Gute Vorsätze gab es reichlich: Der Premierminister wollte dem Parlament eine Entschuldigung für die Kriegsverbrechen abringen, er wollte den von der japanischen Armee während des Krieges vergewaltigten Frauen Entschädigung zahlen und selbst zu einem Besuch mit historischer Versöhnungsgeste nach China reisen.

Doch alle Pläne waren umsonst. Ein Jahr später hat Murayama keines seiner Versprechen einlösen können. Er scheiterte an jenen Ambivalenzen des japanischen Geschichtsverständnisses, die im Ausland niemand mehr versteht.

Gescheiterte Versöhnung

Die vergangenen Tage machten das Dilemma erneut offenbar: Geht es um die französischen Atomtests im Pazifik und damit indirekt um das Erbe Hiroshimas, kann Tokio mit vehementen Protesten auftrumpfen und weiß die Öffentlichkeit hinter sich. Ganz anders aber war das Meinungsbild in Politik und Öffentlichkeit, als Murayama am Dienstag ein zusammengeschrumpftes Hilfsprogramm für die Vergewaltigungsopfer der Soldaten des Tenno vorstellte: „Ich biete den Frauen, deren Wunden niemals heilen können, meine tiefste Entschuldigung an“, versicherte der Premierminister.

Doch er hatte große Teile der eigenen Regierung gegen sich. Scharfe Proteste hatte der Sozialdemokrat zuvor bei den Liberaldemokraten, der größten Regierungspartei, geerntet, selbst als er seine Forderung nach Entschädigungszahlungen des Staates schon zurückgezogen hatte. Am Ende konnte Murayama den verletzten Frauen nur noch einen mageren Hilfsfonds anbieten, der sich nicht aus staatlichen, sondern privaten Spenden nähren soll. Die Betroffenen protestierten: „Der Fonds lädt die Verantwortung für die japanischen Kriegsverbrechen auf die Schultern der Öffentlichkeit und entläßt damit die Regierung aus ihrer Verantwortung für den Staat“, antwortete Kuniko Funahashi, Sprecherin für einige Frauen, die von der japanischen Regierung Entschädigung forderten.

Tokios selbstherrlicher Umgang mit den Opfern aus der Kriegszeit erscheint nämlich als der wesentliche Grund, weshalb die Welt Japan in diesem Jahr allein läßt. Amerikaner und Japaner sind zwar seit ihrem Sicherheitspakt von 1960 Verbündete, doch das Gedenken an das Ende des Krieges findet getrennt statt. Minoru Ohmuta, der Vorsitzende der Friedensstiftung von Hiroshima, hat sich damit abgefunden: „Zwischen uns und Amerika bleibt bei der Betrachtung des Krieges ein großer Unterschied.“ Selbstkritik klingt dabei kaum mit. Vielleicht wäre das 50. Gedenkjahr ja auch in Hiroshima versöhnlicher verlaufen, hätte Kaiser Akihito während seines letzten USA-Besuchs den schon ins Auge gefaßten Termin in Pearl Harbour eingehalten. Doch wieder einmal setzte sich der konservative japanische Hofstaat gegen das Außenministerium in Tokio durch. Schließlich war es Akihitos Vater Hirohito, der 1941 den Befehl zum japanischen Angriff auf die in Pearl Harbour liegende amerikanische Flotte gab. Ein Bußgang Akihitos am historischen Ort wäre damit aus Sicht der Konservativen einer Selbstverleugnung des Kaiserstaates gleichgekommen.

Also werden bei den Gedenkfeiern im August hochrangige Vertreter aus den USA fehlen. „Die Täter gedachten dieses Tages mit keinem Kranze“, notierte Günter Anders bereits am Hiroshima-Tag des Jahres 1958. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber auch Japan hat in der Zwischenzeit nichts dafür getan, die Amerikaner umzustimmen. Schon Stalin glaubte, daß Hiroshima die Rache für Pearl Harbour gewesen sei.

Schwerer als die Ignoranz der Amerikaner aber wiegt die Abwesenheit von Koreanern, Chinesen, Filipinos, Vietnamesen und all den Völkern, die im Zweiten Weltkrieg unter der Schreckensherrschaft der japanischen Armee Hunderttausende, wenn nicht Millionen Opfer zu beklagen hatten. Ursprünglich sollten ihre Vertreter alle zu einem Staatsakt am 15. August nach Tokio eingeladen werden. Doch wieder verhinderten die konservativen Liberaldemokraten eine Zeremonie, die ohne Worte der Entschuldigung nicht ausgekommen wäre. Murayama mußte die Veranstaltung vor wenigen Tagen absagen – ein Eingeständnis politischer Handlungsunfähigkeit.

Nicht einmal in Hiroshima, wo sie zu Mitopfern wurden, werden die übrigen Asiaten an der Gedenkfeier teilnehmen. Nach dem Krieg war die Regierung in Tokio streng genug, nur denjenigen Atombombenopfern eine kostenfreie Gesundheitsversorgung zuzugestehen, die einen japanischen Paß vorweisen konnten. Tausende koreanische Atombombenopfer, die während des Krieges als Zwangsarbeiter in Hiroshima und Nagasaki arbeiteten, kamen niemals in den Genuß staatlicher Hilfe. Ihr Schicksal wurde auch in den Atombombenmuseen von Hiroshima und Nagasaki lange Zeit wortlos übergangen. Wie um diese Diskriminierung unter den Diskriminierten auf ewig festzuschreiben, steht das Mahnmal für die koreanischen Atombombenopfer bis heute außerhalb des Friedensparks von Hiroshima. „Wir haben eben nicht genug über die Geschichte Asiens nachgedacht“, konstatiert – darauf angesprochen – Wataru Imanaka, Chefredakteur der Chugoku Shinbun, Hiroshimas größter Tageszeitung.

Gerade in Hiroshima fällt dieses Eingeständnis schwer. Es gilt schließlich einzusehen, daß die zweifellos heldenhafte Bewegung der Atombombenopfer jahrelang in die Hände einer offiziellen konservativen Rhetorik spielte, die alle Japaner sympathieheischend als „Volk der Atombombenopfer“ auswies. So berechtigt es immer sein wird, an Japans einmaliges Kriegsschicksal zu erinnern, gewann der Verweis auf Hiroshima und Nagasaki bei Japans Politikern häufig die Bedeutung einer diplomatischen Schutzbehauptung. Die Formel reichte schließlich aus, um Fragen nach den japanischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg für die vierzigjährige Dauer des Kalten Krieges als zweitrangig erscheinen zu lassen. Zwischen Amerika und Japan war es in dieser Zeit ohnehin am einfachsten, über die Kriegsverbrechen beider Seiten zu schweigen.

Für die Länder Asiens, in denen die japanischen Soldaten insgesamt etwa 20 Millionen Opfer zurückließen, wäre eine solche Tabuisierung der Kriegsereignisse unter demokratischen Umständen nie in Frage gekommen. Doch lange Zeit waren die betroffenen Bevölkerungen zu sprachlos, um ihren Groll zu äußern.

Erst die Demokratiebewegungen in Südkorea und Taiwan brachten nach Ende des Kalten Krieges genug Stimmen der Opfer an die Weltöffentlichkeit, um Japans Täterrolle im Zweiten Weltkrieg noch einmal in ein derart krasses Licht zu tauchen, daß eine Antwort aus Tokio nicht ausbleiben konnte.

Der frühere japanische Premierminister Morihiro Hosokawa begriff als einer der ersten die neue Lage. Seine Regierungserklärung im Sommer 1993 glich einem Befreiungsschlag: Obwohl er selbst aus konservativem Hause stammte, übernahm der damals frischgewählte Premier das alte Vokabular der Linken und bekannte sich zu „Kolonialismus und Angriffskrieg“ seiner kaisertreuen Väter. Die Ministerien wies Hosokawa an, ihre Leichen im Keller zu sichten: Unerhörtes kam endlich ans Licht. Nun mußte die Regierung einräumen, daß es die Zwangsprostitution in den Reihen der Kaiserarmeen tatsächlich gegeben hatte und konnte auch die Existenz chinesischer Arbeitslager in Japan zum Ende des Krieges nicht länger bestreiten. Im Rückblick wird klar, daß Hosokawa mit seinen mutigen Worten, die damals viele im Ausland fälschlich für bare Münze nahmen, die neuere japanische Vergangenheitsdebatte erst eröffnete.

Bestseller von Weizsäcker

Seither sind die Fortschritte nicht mehr zu übersehen. Obwohl sich Murayama gegen seine konservativen Gegner in diesem Jahr nicht durchsetzen konnte, fordern heute nach Umfragen zwei Drittel der Japaner von ihrer Regierung deutlichere Entschuldigungsgesten gegenüber den asiatischen Nachbarländern. Spät, aber vielleicht nicht zu spät zeigen sich allmählich die Wege aus Japans historischen Dilemma zwischen verleugneter Kriegsschuld und verklärtem Opfergefühl nach den Atombombenabwürfen.

So entschieden sich die Stadtherren von Hiroshima und Nagasaki – nun mit Rückenwind aus Tokio – für den Umbau ihrer Atommuseen: Endlich befassen sich die Ausstellungen (in Nagasaki noch im Planungsstadium) mit dem japanischen Angriffskrieg in Asien und sprechen damit die Frage nach dem Warum der Atombombe an. Das Schicksal der koreanischen Atombombenopfer wird ebenfalls nicht länger ausgeklammert.

Chefredakteur Imanaka traf seinerseits eine ungewöhnliche Entscheidung. Als Ehrengast lud die Chugoku Shinbun zum 50. Jahrestag des Atombombenabwurfs ausgerechnet den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ein, der eben nicht ein Symbol des Atomwiderstands ist, sondern für eine ehrliche Form der Vergangenheitsbewältigung steht. Weizsäcker, dessen berühmte Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 sich in Japan schon 150.000mal verkaufte, ist ein heimlicher Held vieler Japaner, die das Erinnerungsversagen ihrer Nation erkennen, und insofern der richtige Gast zur richtigen Zeit.

Solidarität mit Asiatinnen

Wichtigstes neues Element der Vergangenheitsarbeit ist die breite Solidaritätsbewegung mit den asiatischen Frauen, die von den japanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg systematisch – pro Tag bis zu hundertmal – vergewaltigt wurden. Die Entschädigungsklagen dieser Frauen und die Geschichte ihrer Leiden haben in Japan erstmals einen großen Teil der Öffentlichkeit mit dem unmittelbaren Schicksal der Opfer japanischer Kriegsverbrechen konfrontiert. Vor allem für jüngere Generationen, denen in der Schule bisher nur die Greuel von Hiroshima und Nagasaki geschildert wurden, war das späte Coming-out der ehemaligen Zwangsprostituierten ein Aha-Erlebnis.

Japans Rechte hat deshalb freilich nicht eingesteckt. Noch immer glauben ihre Anhänger, daß Japan im Krieg kein größeres Unheil angerichtet hat als zuvor die westlichen Kolonialmächte und erst der Krieg den meisten asiatischen Ländern die Unabhängigkeit brachte. Diese Argumente einer Minderheit waren in diesem Jahr immerhin so lautstark zu vernehmen, daß Japan rund um den Globus als das Land, das nicht sorry sagen kann, stigmatisiert wurde.

Bleibt dieser Eindruck bestehen, wird Japans pazifistische Haltung die Nachbarländer weiterhin nicht überzeugen, und alle Anstrengungen Tokios, nach der wirtschaftlichen auch eine politische Führungsrolle in Asien zu übernehmen, wären vermutlich umsonst. Andersherum ist die Entwicklung freilich auch denkbar: Glaubwürdige Entschuldigungsgesten, wie sie die Mehrheit der Japaner fordert, könnten den Tokioter Staatspazifismus in den nächsten Jahren neu beleben und das Vertrauen der Nachbarländer erwecken, solange sich China als neue militärische Großmacht in der Region brüstet.

Was Japan zu leisten hat, hat die Lyrikerin Sadako Kurihara aus Hiroshima ihrer Nation vorgelebt: Den 6. August 1945 erlebte Kurihara in den Kellern ihrer Heimatstadt und sah zu, wie dort unter den tödlichen Strahlen der Bombe ein Kind zur Welt kam. Das Gedicht dieser Nacht gehört zur Weltliteratur. Kurihara, die später oft im Namen der Opfer von Hiroshima sprach, verstand als eine der ersten die widersprüchlichen ausländischen Reaktionen auf ihre Erfahrungen. 1972 dichtete sie:

„Wenn man sagt: ,Hiroshima‘, gibt es eine Antwort, die lautet Pearl Harbour. Wenn man sagt: ,Hiroshima‘, gibt es eine Antwort, die lautet Nanking. Wenn man sagt: ,Hiroshima‘, gibt es eine Antwort, die lautet Manila, wo Frauen und Kinder mit Benzin verbrannt wurden. Wenn man sagt: ,Hiroshima‘, kommt das Echo von Blut und Feuer zurück. Um eine warmherzige Antwort zu bekommen, wenn man sagt: ,Hiroshima‘, müssen erst wir den Dreck von unseren Händen spülen.“