Süchtig nach Suff

■ Zehn Minuten habe ich Zeit gehabt, die Beine hochzulegen, als der Pieper meine Pause unterbricht. Ich bin Nachtdienstarzt in einer 60-Betten-Klinik. Die beatmete Patientin von A9 wird unruhig, sagt die Schwester. Ich eil

... mit ängstlichen Blicken sehen die Angehörigen mir entgegen. Vor wenigen Stunden mußte ich sie aufklären, daß für die 47jährige so gut wie keine Chance mehr bestehe. Ich habe allerdings erwartet, sie werde still sterben. Nun sehe ich sie deutlich gegen die Beatmungsmaschine kämpfen. Erstmals seit zwei Tagen bewegt sie Beine und Kopf. Es sind Reflexe, die die aufgeregten Angehörigen für wiederkehrendes Leben halten. Ein Blick auf den EKG-Monitor zeigt unregelmäßige Herzaktionen mit sekundenlangen Pausen und eingestreuten Salven von Extraschlägen. So kündigt sich oft das Ende an. Nur ihre Atembewegungen verwirren mich.

Ich schalte die Beatmungsmaschine um, so daß die Patientin den Atemrhythmus selbst angeben kann. Doch die Maschine wartet vergeblich auf ausreichende Atemanreize der Patientin. Ich muß wieder auf kontrollierte Beatmung umschalten. Der Herzmuskel flattert, findet seinen Rhythmus kurz wieder. Dann stellt er, nach erneutem Flattern, seine Arbeit ein. Die Beatmungsmaschine pumpt Sauerstoff in eine Tote.

Die Angehörigen waren meinen Blicken zum Monitor gefolgt. Entsetzt schauen sie mich an, als sich die Nullinie stabilisiert. Der Ehemann hält die Hand der Sterbenden und flüstert immer wieder: „Du darfst mich nicht allein lassen. Edith, du mußt es schaffen.“ Ich wünsche mich weit weg.

Verdammt, weshalb bürde ich mir diese Szenen immer wieder auf, indem ich Angehörige ermuntere, in den letzten Stunden dabeizusein? Ich trete an das Beatmungsgerät und lege den Hauptschalter um. Es ist totenstill im Raum. „Herr M., ihre Frau ist gerade gestorben“, sage ich leise. Er senkt seinen Kopf auf ihre Hand, während Schluchzen aufklingt. Die Mutter, die Tochter, zwei Brüder und die Schwägerin liegen sich weinend in den Armen. Als ich ihnen einzeln mein Beileid ausdrücke, rieche ich, von wem die penetrante Alkoholfahne ausgeht, die die Besuchergruppe nicht zum ersten Mal umgibt. Es ist die neunzehnjährige Tochter.

Edith M. hatte bei uns eine dicke Akte. Der erste Klinikaufenthalt liegt sieben Jahre zurück. Sie kommt mit Magengeschwüren, fällt aber bereits damals auf, weil sie Alkoholentzugssymptome entwickelt. Die Leber war verfettet. „Patientin weist Alkoholmißbrauch weit von sich“, notiert eine Kollegin. Es folgen wiederholte Aufenthalte wegen Magengeschwüren, Bauchspeicheldrüsen-Entzündungen, die Anzeichen für eine Leberzirrhose, endlich: „Patientin stimmt einer Entzugsbehandlung zu.“ Es folgt Rückfall auf Rückfall, Entzug auf Entzug. In immer kürzeren Abständen punktieren wir den monströs vom Wasser aufgequollenen Bauch.

Aus diesem Grund war sie auch diesmal gekommen. Eine Behandlung der Ursache war uns nicht möglich. Sie trank nach wie vor. Da sie unweigerlich in den Entzug rutschen würde, legten wir sie gleich auf die Intensivstation. Dann versagte überraschend das Herz.

Als sie schließlich beatmet, aber wieder mit selbsttätig schlagendem Herzen daliegt, ist sie eine jener atmenden Leichen in unseren Kliniken, die zunehmend Spezialabteilungen bekommen und Ethiker, Kliniker und Laien gleichermaßen ratlos machen. Am Tag der Reanimation schaut der Bruder mich böse an, als ich auf seine verständnislose Frage, wie das mit einem knapp 50jährigen Menschen passieren könne, antworte, Alkohol sei nicht nur ein Lebergift, sondern schädige auch andere Organe, besonders den Herzmuskel.

Sie habe doch in letzter Zeit kaum noch getrunken, insistiert er. Ich muß ihm widersprechen. Kaum, daß seine Schwester bei uns war, hatte ihr Körper nach Alkohol geschrien. Ihr damaliges Zittern, Phantasieren, der hohe Puls, der kaum meßbare Blutdruck, der entgleisende Zucker – so stellt sich uns der Schrei nach dem Gift dar. Er braust auf. Nur weil sie früher getrunken habe, dürfe man sie doch nicht zur Alkoholikerin stempeln.

Am Tag vor Edith M.s Tod hatte ich eine weitere Auseinandersetzung mit der 19jährigen Tochter, die betrunken zum Besuch kommt. Ich eröffne ihr, daß ich sie letztmalig alkoholisiert auf die Intensivstation ließe. Der Vater verteidigt sie. Das „Kind“ verlöre möglicherweise die Mutter, da müsse ein Schluck zum Beruhigen erlaubt sein. Ich habe mir abgewöhnt, in solchen Situationen an den Zustand der Mutter zu erinnern. Interventionen dieser Art sind wirkungslos. Absolut.

Edith M. ist der fünfte von sieben Menschen, die in diesem Jahr in unserer winzigen Klinik mit einem 15.000 Einwohner umfassenden Einzugsbereich unter ähnlich dramatischen Umständen starben. Die anderen, deren Alkoholmißbrauch nur sekundäre Todesursache ist, zähle ich nicht: Der Infarkt bei dem 65jährigen, der tot war, bevor sein Körper gegen den Schnapsmangel rebellieren konnte; die tödliche Lungenentzündung bei dem ausgemergelten 70jährigen Quartalssäufer; der 23jährige, der besoffen gegen einen Baum raste, seine Freundin zum Krüppel machte und sechs Traueranzeigen von Vereinen, Kollegen und liebenden Angehörigen bekam ...

Der älteste, von denen, die ich als Drogentote mitzähle, war 52 Jahre, sah aus wie 70, war seit Jahren erwerbsunfähig und stank dermaßen, daß wir nach der Erstuntersuchung die Kleider wechselten. Ein einsamer Mann, über dessen Tod niemand benachrichtigt werden mußte. Die jüngste war eine 32jährige Frau. Aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens waren ihr Schulabschluß und Berufsausbildung verwehrt geblieben. Ihrem Umfeld war es gleichwohl gelungen, ihr die euphorisierende Wirkung des Akohols nahezubringen. Obwohl sie nie über eigenes Geld verfügte, wurde sie von ihren Pflegepersonen und anderen doch stets so gut mit Stoff versorgt, daß sie als geistiges und körperliches Wrack starb. Unser vorletztes Rauschgiftopfer stand natürlich auch nicht als solches in der Zeitung, ein 42jähriger Mann, der zwei Wochen vor Edith M. gestorben war. Es gibt immer Patienten, bei denen man auf Notfälle vorbereitet ist. Josef A. gehörte nicht dazu, obwohl sein Körper tagelang gegen das Leben ohne den Stoff kämpfte. A. schwitzte, phantasierte, tobte, schiß das Bett im Stundentakt voll und brachte uns zur Verzweiflung. Zu allem Überfluß vertrug er plötzlich die Medikamente, die den Entzug dämpfen sollten, nicht mehr und wir mußten umstellen.

Und dann, nachts, der Notfall: Herr A. mit Herz-Kreislauf-Stillstand. Als ich gerufen werde, sind zwei Schwestern schon bei ihm, eine beatmet, eine macht die Herzmassage. Ohne äußere Hilfe wäre er tot. Ich kenne seine Frau gut. Sie hat lange um ihn gekämpft, ihn mit den Kindern aber vor wenigen Wochen verlassen. Sie hat weinend vor mir gesessen und sich Vorwürfe gemacht. Sie glaubt, es gehe ihm so dreckig, weil sie ihn allein gelassen habe. Ich habe sie bestärkt, daß sie sich richtig entschieden hätte. Wenn er jetzt stirbt, ist es besonders schlimm für sie.

Wir arbeiten wie besessen. Doch nichts gelingt. Der Herzmuskel verweigert seine Arbeit. Während zwei Stunden kommt mir nicht einmal der Gedanke, daß dieser vergiftete Körper nicht mehr leben kann. Ich ignoriere meine Erfahrungen, während wir Möglichkeit um Möglichkeit probieren. Am frühen Morgen müssen wir unser Scheitern eingestehen und brechen ab.

Josef A. war ein junger Industriemeister, der den Sprung in die Selbständigkeit wagte. Das Geschäft lief gut, die Anforderungen wuchsen. Streß hatte er schon immer mit Alkohol kompensiert. Als Angestellter eines großen Betriebes mußte er sich noch zurückhalten. Als Firmeninhaber aber hinderte ihn niemand.

Oft war er schon mittags betrunken. Nach wenigen Jahren machte er pleite. Schuld am Niedergang des Geschäfts war natürlich die Wirtschaftslage. Sein Hausarzt, der die immer häufigeren Besuche durchaus richtig interpretierte, stellte seine Ermahnungen zur Mäßigung bald ein, denn Herr A. lehnte jede Erörterung seines Drogenmißbrauchs ab. Also kurierte der Kollege an den Symptomen. Vielleicht haben auch wir deshalb so besessen reanimiert, weil ein jugendlich wirkender Mensch vor uns lag.

Eine halbe Stunde drücke ich mich um den Anruf bei seiner Frau. Es läuft wie befürchtet. Sie bricht zusammen und gibt sich die Schuld an seinem Tod. Lange hatte sie sich von ihm schlagen lassen und ihn damit entschuldigt, er sei nicht Herr seiner Sinne, wenn er betrunken war.

Ihre Ohnmacht war ihr erst bewußt geworden, als sie merkte, daß sie als eine von fünf heimlichen Alkohollieferanten für den Abbruch seiner vorletzten Behandlung bei uns mitverantwortlich gewesen war und er gewalttätiger als je zuvor nach Hause zurückgekehrt war.

Josef A. hatte bis zum Schluß behauptet, „eigentlich“ könne er immer aufhören. Sechs Wochen vor seinem Tod war er schon einmal aus unserer Klinik geflüchtet, weil wir seinen heimlich organisierten Alkoholnachschub abgeschnitten hatten. Er hatte gleich mehrere Verwandte überredet, ihm täglich „eine einzige“ Flasche Bier mitzubringen. Der Vater spielte mit, zwei Brüder, ein Kollege – und seine Frau. Keiner wußte vom anderen. Josef A. hatte die Klinik damals laut schimpfend verlassen. Hier stempele man unbescholtene Bürger zu Alkoholikern. Drei Wochen später hatten wir ihn wieder, bewußtlos, mit akuter Alkoholvergiftung. Nun ist er tot.

Unser vorläufig letzter Alkoholtoter nach Josef A. und Edith M. war ein 62jähriger Alkoholiker, dessen Leber ihren Beitrag zur Blutgerinnung nicht mehr leisten konnte. Seine Traueranzeige war überschrieben: „Der Mittelpunkt wurde überraschend aus unserer Familie gerissen.“ Seine Familie wußte lange, daß er nach Jahren der Krankheit am Ende war. Keine Zeitung wird ihn als Suchttoten registrieren. William Schroeder

Der Autor, 46, arbeitet als internistischer Assistenzarzt in einer Kleinstadt bei Nürnberg