■ Srebrenica ist gesäubert, Žepa wird beschossen
: Warten auf Goražde

Selten hat ein Politiker seine Verbrechen so offen angekündigt wie Radovan Karadžić. Mit der Vertreibung der Muslime aus Srebrenica löste er unter den Augen der Weltöffentlichkeit ein kurz zuvor gegebenes Versprechen ein. Seit einer Woche attackieren seine Truppen, wie angekündigt, Žepa, eine weitere UN-Schutzzone. Und eine ganze Woche brauchten die Außenminister der sogenannten Kontaktgruppe, die Bosnien seit einem Jahr einen Frieden vermitteln will, um heute in London zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenzukommen. Es drängt sich der Gedanke auf, dem serbisch-bosnischen Kriegsherrn solle Zeit eingeräumt werden, militärische Fakten zu schaffen. Und schon bietet dieser an, Goražde friedlich gegen Teile Sarajevos einzutauschen. So blieben uns wenigstens die schrecklichen Bilder verstümmelter Menschen erspart.

Drei Kriegswinter mit unglaublichen Entbehrungen hatten die in Srebrenica eingeschlossenen Muslime durchgestanden – bis sie letzte Woche trotz aller internationalen Versprechungen dann doch der bosnisch-serbischen Soldateska schutzlos ausgeliefert wurden. Über drei Jahre lang haben die Muslime in Žepa und Goražde sich dem Schutz der Blauhelme anvertraut. Seit über drei Jahren werden die 350.000 belagerten EinwohnerInnen der bosnischen Hauptstadt beschossen. Seit drei Monaten ließen Karadžićs Mannen in Sarajevo kein Hilfsflugzeug mehr landen. In zwei Monaten haben gerade zwei Konvois die Stadt erreicht. Noch weit schlimmer steht es mit der Versorgung von Bihać. All diese Menschen haben ein Recht auf ein klares Wort. Hat man sie aufgegeben, weil „eine Nation ihren Staat aus eigener Kraft schaffen muß oder keinen haben kann“, wie Karadžić jüngst dozierte? Oder ist man im Westen bereit, diesen Menschen den versprochenen Schutz zu bieten?

Das Drama der letzten Tage hat die ganze Verlogenheit der westlichen Bosnienpolitik aufgezeigt: Schutzzonen sind keine Schutzzonen, und hinter der postulierten Unparteilichkeit verbirgt sich Kollaboration. Vor zwei Jahren beauftragte der UN-Sicherheitsrat die Nato mit dem Schutz der Blauhelme und der sechs Schutzzonen – vor Angriffen von welcher Seite auch immer. Ganz unparteiisch also. Doch die Versorgung der belagerten Bevölkerung der Schutzzone von Sarajevo sicherzustellen bedeutet heute, einen Landkorridor freizukämpfen – gegen die Serben. Es wird Tote geben. Wer moralische Bedenken hat, mag die toten Soldaten gegen die verhungerten Zivilisten aufrechnen und gegen die Leichen im Gebiet zwischen Srebrenica und Tuzla. Die Frage einer politischen Lösung steht auf einem andern Blatt. Es wäre hilfreich, der Westen würde da seine Ziele so offenlegen wie Radovan Karadžić. Thomas Schmid