Die große Vernetzung der Institutionen

■ Die Chipkarten sollen europaweit standardisiert und in allen EU-Ländern einlesbar sein. Ihre Speicherkapazität soll bald bei 10.000 Textseiten liegen

Das Chipkartengeschäft boomt. Siemens Nixdorf, einer der globalen Marktführer, schätzt, daß der Weltmarkt bis 1998 auf 1,3 Milliarden Mark steigen wird, das wäre ein Wachstum von 650 Prozent innerhalb von fünf Jahren. Größtes Anwendungsfeld soll, noch vor den Bank- und Kreditkarten, das Gesundheitswesen werden. Bereits 1997 soll jede vierte Chipkarte in Europa eine Gesundheitschipkarte sein. Die Bundesrepublik wird dabei wohl die Nase vorn haben – dank der staatlich verordneten, flächendeckend eingeführten Krankenversichertenkarte, die Lobbyisten als strategischen Durchbruch und „Schrittmacher in Deutschland und Europa“ feiern.

Nun propagieren Industrie und Wirtschaftsförderer neue Anwendungen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Ende 1993 von der EU- Kommission initiierte „Konzertierte Aktion Eurocards“. In sechs Arbeitsgruppen bemühen sich 35 europäische Experten, darunter Gerhard Brenner und Otto Rienhoff aus der Bundesrepublik (zu ihrer Person siehe oben), die „Mission von Eurocards“ voranzubringen: EU-weite Einführung neuer Chipkarten, Normierung der eingesetzten Technik, Vereinheitlichung der Datensätze, Einflußnahme auf die nationalen Gesetzgeber, Akzeptanzförderung bei Patienten und Medizinern.

Erklärtes Ziel der Arbeitsgruppen: Jede Chipkarte, die in einem EU-Staat eingeführt wird, soll in allen Gesundheitseinrichtungen der Mitgliedsländer lesbar sein und akzeptiert werden – egal, ob auf dem Chip Verwaltungsdaten, Notfallinformationen oder Daten zu chronischen Krankheiten gespeichert sind.

Bei EU-geförderten Vorzeigeprojekten wie Diabcard und Dialybre (Chipkarten für Zuckerkranke und Dialysepatienten) achten „Konzertierte Aktion“ und beteiligte Unternehmner wie IBM, Siemens und Boehringer auf Ausbaufähigkeit. Es geht nicht nur darum, die Datenmenge zu vergrößern.

Im Auge hat die „Konzertierte Aktion“, passend zur verbreiteten Datenautobahn-Euphorie, auch die multimediale Vernetzung. Chipkarten, heißt es in einem Strategiebüchlein von Eurocards, „könnten auch Zugangsschlüssel zu Telematikdiensten sein“, Netze und Patientenkarten seien „zwei sich ergänzende Technologien“.

Daß die „intelligenten“ Plastikkärtchen eine Alternative zu Computernetzwerken sein sollen, sei ein „gern gehörtes Märchen“, schmunzelt der Medizin-Informatiker Claus Stark von der Fachhochschule Heilbronn. „In Wirklichkeit“, schreibt Stark in der PatientInnen-Zeitung, „sind Chipkarten leider nicht geeignet, die große Vernetzung der Institutionen zu verhindern und damit deren Gefahren zu vermeiden. Im Gegenteil – durch Chipkarten wird die Computervernetzung erst attraktiv.“

Unterdessen wird die technische Entwicklung vorangetrieben: Bis zur Jahrtausendwende sollen „optische Karten“ mit Speicherkapazitäten bis zu 20 Megabyte (entspricht rund 10.000 Textseiten) entwickelt sein, die per Laserstrahl beschrieben und an Personalcomputern gelesen werden können. Startklar ist schon die Bayer AG, Leverkusen: In einem Pilotprojekt will sie eine „Optical Memory Karte“ testen lassen, auf der mindestens 1.600 Seiten Text oder 70 Röntgenbilder Platz finden sollen. Erwünschte Testpersonen sind Gynäkologen und Frauen.

Zur Speicherung auserwählt hat der Pharmamulti unter anderem den kompletten Mutterpaß und Daten, die Ärzte während der Schwangerschaft und kurz nach der Geburt im Krankenhaus routinemäßig sammeln.