Computer lesen dich ein

■ In Neuwied läuft seit zwei Wochen ein Modellversuch, der über kurz oder lang zum gläsernen Patienten führen könnte: Krankengeschichte und Lebensführung sollen auf Chipkarte gespeichert werden Von Klaus-Peter Görlit

Computer lesen dich ein

Da freut sich der Oberbürgermeister – er hat einen Werbeträger entdeckt: „Die medizinische Patientenkarte“, meint Manfred Scherrer, „wird Neuwied weit über seine Grenzen hinaus bekannt machen.“ In der 70.000 Einwohner zählenden Kreisstadt unweit vor Koblenz hat Anfang Juli ein Versuch begonnen, der bundesweit einmalig ist. Und „richtungsweisend“ – hoffen jedenfalls die Initiatoren, die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Koblenz und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA).

Die Teilnahme am Neuwieder Modellprojekt ist freiwillig. Wer mitmachen will, bekommt ein Plastikkärtchen mit integriertem Mikroprozessor. Speicherbereich Nr.1 umfaßt den elektronischen Befundbogen: Angaben zu Röntgenaufnahmen, Operationen, Allergien, Blutgruppe und chronischen Erkrankungen wie Asthma oder Aids. Speicherbereich Nr.2 enthält den Medikamenten-Datensatz, der bei jedem Apothekenbesuch aktualisiert wird. Wenn ein Apotheker ein Arzneimittel aushändigt, muß er Namen und Packungsgröße auf der Chipkarte des Kunden vermerken. Ein Arzt, der wissen will, welche Medikamente sein Patient einnimmt, braucht ihn nicht mehr persönlich zu fragen. Statt dessen schiebt er das Kärtchen in ein Lesegerät, und die aktuellen Angaben plus Befundbogen erscheinen auf dem Bildschirm des Computers.

„Die Patientenkarte ist Einstieg, nicht Endpunkt“

Der Chipkarteneinsatz, verspricht die KV Koblenz, werde Erinnerungslücken der Patienten ausgleichen – belastende Doppeluntersuchungen oder Nebeneinanderverordnungen könnten künftig vermieden werden. Ob diese Erwartung realistisch ist, ob Ärzte, Apotheker und Patienten das neue Medium akzeptieren, das soll eine „wissenschaftliche Begleitforschung“ klären. Verantwortlich dafür zeichnet das Kölner Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) – dieselbe Einrichtung, die auch das Modellprojekt konzipiert hat.

Für ZI-Geschäftsführer Gerhard Brenner ist die zweijährige Probephase ohnehin nur Etappe einer langfristigen Strategie: „Die Patientenkarte ist Einstieg und nicht Endpunkt in der Entwicklung.“ Erreichbares Ziel sei ein „flächendeckendes Informationsnetz mit Patientenkarten“.

In einigen Jahren, schwärmen manche Visionäre aus Industrie und Wissenschaft, soll auf nur einer Chipkarte die gesamte Krankengeschichte gespeichert sein, inklusive Vorsorgeuntersuchungen, Bereitschaft zur Organspende und genetischen Informationen. Brenner, die Professoren für Medizin- Informatik Claus O. Köhler (Heidelberg) und Otto Rienhoff (Göttingen) sowie Vertreter von IBM, Siemens und Dornier verkündeten schon 1991 in einem „Memorandum“: Mit Hilfe maschinenlesbarer Karten seien „Programme zur Gesundheitserziehung“ und „Präventionsstudien“ wesentlich besser realisierbar; erhöht würden „Autonomie und Selbstverantwortung des Patienten“. Und die Siemens Nixdorf AG lockt mit Kostenreduzierung.

Kein Wunder, daß auch Krankenkassen begeistert sind. Bis Januar, wenn der Startschuß für den Kassen-Wettbewerb fällt, will die AOK Leipzig ihren rund 600.000 Mitgliedern unaufgefordert die „VitalCard“ ins Haus geschickt haben. Auf der Karte sollen auch Daten zur körperlichen Leistungsfähigkeit des Patienten und zur Teilnahme an Präventionskursen gespeichert werden.

Die Werbung für das neue „Service-Angebot“ erntete einen ungewöhnlichen Boykottaufruf: Sachsens Datenschutzbeauftragter Thomas Giesen appellierte in seinem jüngsten Tätigkeitsbericht an Ärzte und Patienten, sich an dem „Großversuch“ der AOK nicht zu beteiligen. Die VitalCard, schreibt Giesen, sei „in Wahrheit ein Werbegag“. Kommunikation von Arzt zu Arzt, die der Karteneinsatz verbessern solle, „findet nicht statt, vielmehr lediglich ein einseitiger Transport von Begriffen und Schlagworten“. Dabei bestehe die Gefahr, daß sich der Empfängerarzt mit den Daten begnüge und „fälschlich auf eigenständige Feststellungen verzichtet“.

Bedroht sieht der Datenschützer durch die neue Technik auch informationelle Selbstbestimmung und die formal garantierte Freiwilligkeit: „Der Versicherte unterliegt im täglichen Leben großem sozialen Druck zur Offenlegung dieser Daten.“ Ausländerbehörde, Sozialamt, Polizei und Arbeitgeber seien an Daten über Geschlechtskrankheiten oder Suchtverhalten durchaus interessiert. „Es liegt nicht fern“, so Giesen, „die Begehrlichkeit der Versicherer zu befriedigen: Im Interesse der Kostendämpfung werden die Patienten dann bestimmten Risiko- und Verhaltensgruppen zugeordnet; Bonuspunkte winken.“

Raucher und Über- gewichtige, aufgepaßt!

Tatsächlich ließen sich mittels Patientenkarte leicht diejenigen identifizieren, die nach Meinung des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen höhere Beiträge zahlen sollten: Übergewichtige, Bewegungsmuffel, Raucher, Trinker – alle, die tatsächlich oder vermeintlich ungesund leben. Die Chipkartentechnik macht aber auch Mediziner kontrollierbarer: „Ärzte“, schreibt Datenschützer Giesen, „können nach Abrechnungslauterkeit, Verordnungsverhalten, Diagnosefestigkeit und Erfolg beurteilt werden.“

Solche Bedenken stoßen bei Krankenkassenvertretern und Ärztefunktionären auf Unverständnis, manche sprechen sogar von einem „Horrorszenario“. Doch auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen warnt, die Chipkartentechnik leiste „Durchleuchtung“ und „Entsolidarisierung“ Vorschub und fördere die ohnehin schon verbreitete Zwei-Minuten-Medizin. Die Patientenvertreter schlagen vor, das System der Einzelleistungsvergütung abzuschaffen und den Ärzten künftig Festgehälter zu zahlen.

Diese nichttechnische Alternative würde „die Chipkarte und die mit ihr zwangsläufig verbundenen Entwicklungen der Datenerfassung und -kontrolle schlichtweg überflüssig machen“.

Derweil mischt Minister Seehofer munter mit

Derartige Vorschläge haben allerdings keine Lobby, und sie wurden auch nicht untersucht bei der „Technikfolgen-Abschätzung zu Chipkarten im Gesundheitswesen“, die das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) in Auftrag gegeben hatte. Seit Ende 1994 liegt ein Abschlußbericht mit einer langen Liste von „Chancen und Risiken“ vor. Die Technikbewerter sehen „rechtlichen Regelungsbedarf“, der Bürger als Chipkartenträger dürfe nicht gläsern werden.

Die Politiker scheinen diese Botschaft noch nicht gehört zu haben. Sinn und Unsinn der maschinenlesbaren Krankengeschichte waren im Bundestag bisher kein Thema. Die Kernfrage, ob und wie die Risiken der Chipkarte überhaupt zur beherrschen sind, wurde im Parlament bisher weder gestellt noch beantwortet.

Derweil mischt der Bundesgesundheitsminister munter mit beim Kartengeschäft.

Horst Seehofer hat die Schirmherrschaft für die internationale Fachtagung „Health Cards '95“ übernommen, die Ende Oktober mit „begleitender Industrieausstellung“ in Frankfurt am Main stattfindet. Willkommen ist, wer 850 Mark Teilnahmegebühr zahlt. Veranstalter sind die Kassenärztliche Bundesvereinigung, Krankenkassen, Bundesärztekammer und die Kartenmemorandum-Professoren Köhler und Rienhoff. Um Mißverständnissen vorzubeugen, stellen die Organisatoren in der Einladung klar, der Kongreß wolle keinen wissenschaftlichen Diskurs, sondern konzentriere sich auf die Einführung neuer Chipkartensysteme in Europa.

„Chip, Chip, hurra?“ heißt eine Informationsbroschüre, erstellt von der Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen, „Musterbrief an Ihre Krankenkasse“ inklusive. Für 5 Mark plus Porto verschickt sie der Kölner Gesundheitsladen, Vondelstr. 28, 50677 Köln.