Gegen das Chamäleon Kapitalismus

Der trotzkistische Politökonom Ernest Mandel ist 72jährig gestorben. Er glaubte zeitlebens fest an den unerbittlichen Niedergang des kapitalistischen Systems und lehnte jeden Kompromiß ab.  ■ Von Rudolf Hickel

Ernest Mandel war wohl der letzte bedeutende Politökonom, der mit seiner radikalen Kapitalismuskritik zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionieren wollte. In jener Phase der Studentenbewegung, die von der Faszination von Theorie gekennzeichnet war, fand sein Werk wohl die größte Beachtung. Als aber das Interesse an Theorie als Anleitung zur revolutionären Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse schwand, verlor auch Mandel zusehends an intellekuellem wie politischem Einfluß. Dennoch hinterläßt er ein Werk, auf das sicherlich in Zukunft wieder zurückgegriffen werden wird.

Seine Veröffentlichungen galten der Kritik der modernen Strukturen des Spätkapitalismus. Grundaussage seiner kaum überschaubaren Flut von Publikationen: Der Kapitalismus schafft sich zwar immer wieder neue Bewegungsreformen, am Ende steht jedoch sein unerbittlicher Niedergang. So hat das Marxsche „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ in Mandels Werk eine große Rolle gespielt. Danach setzen sich in der Gesamtwirkung einzelkapitalistischer Profitorientierung zwangsläufig Krisen, Arbeitslosigkeit und schließlich der Zusammenbruch durch.

Allerdings ging die Theorie Ernest Mandels – trotz Weltwirtschaftskrise, dem Weltkrieg, den zyklischen und strukturellen Krisen und schließlich der ökologischen Katastrophe – zumindest zu seinen Lebzeiten nicht auf. Mandel mußte erkennen, daß sich das System, einem Chamäleon gleich, immer wieder aus der Schlinge zog, wenn auch die Probleme insgesamt wuchsen. Dennoch ist diese gegen den Strich gebürstete Analyse des internationalisierten Kapitalismus nach wie vor faszinierend. Es lohnt, sich an seinen provokanten Thesen abzuarbeiten. Das geht nicht ohne Mühe: Mandels Liebe zum Detail – großteils in Fußnoten verbannt – und lange statistische Kolonnen erschweren die Lesbarkeit.

Bei der Deutung der Daten ging ihm auch schon mal der Gaul durch. Dazu ein Beispiel: In einer Diskussion, an der ich teilnahm, versuchte er seine Zusammenbruchtheorie wortgewaltig mit dem Hinweis zu belegen, daß die Profitrate von 72,3 auf 72,2 Prozent hinuntersauste – allerdings statistische Unsicherheiten nicht berücksichtigend.

Dem Internationalisten Ernest Mandel kommt das Verdienst zu, die heute überall diskutierten Globalisierungstendenzen des Kapitalismus vorausschauend beschrieben zu haben. Dabei galt sein Interesse der Entwicklung des weltweit vagabundierenden Finanzkapitals. Die heutige Debatte über die Beeinflussung der sekundenschnell über den Erdball transferierten Spekulationskapitalien hatte er vorausschauend im Blickfeld. Unter dem Primat kapitalistischer Logik, so seine Botschaft, gibt es keine brauchbaren Instrumente, um Finanzmittel aus verschwenderischen Spekulationen in sinnvolle Investitionsobjekte zu lenken. Die Modellschreinerei der mainstream-economics belegte Mandel nur mit Spott; die Lehrbuchökonomie war seiner Ansicht nach nutzlos, eben „vulgär“.

Aber auch gegenüber den Polit- ökonomen legte er Wert auf seinen eigenständigen Ansatz. Ja, manchmal überzog er seine Kritiker im linken Lager mit beißender, auch rechthaberischer Kritik. Als gelegentlich Betroffener weiß ich, worüber ich hier schreibe. Man mußte ihn dann aushalten, um schließlich doch noch zum Dialog zu kommen. Die vielen Streitgespräche – zuletzt mit Gregor Gysi von der PDS – dominierte er mit der Botschaft: Reparaturen an der komplexen Kapitalismusmaschine helfen nicht weiter. Die Grundlagen des Wirtschaftssystems müssen aus den Angeln gehoben werden.

Um seine Publikationen zur schonungslosen Kapitalismuskritik zu interpretieren, darf man sein politisches Engagement als Generalsekretär eines Flügels der trotzkistischen IV. Internationalen keinesfalls außer acht lassen.

Das erklärte Ziel, der revolutionären Veränderung zum Durchbruch verhelfen zu wollen, hat ihm Einreiseverbot nach Frankreich, aber auch nach Westdeutschland eingebracht. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, gelegentlich völlig überraschend mit dem Motorrad bei einer Demo in Paris aufzukreuzen. Als ein Einreiseverbot Anfang der siebziger Jahre durch den damaligen Innenminister Genscher ausgesprochen wurde, fand an der gerade gegründeten Universität Bremen eine Kampagne für seine Berufung statt – übrigens unter Protest der orthodoxen DKP. Trotz Einreiseverbots kam er zum konspirativen Gespräch über seine Theorie in einer am Deich gelegenen kleinbürgerlichen Gaststätte.

Politisch war der jüdische Sozialist und wortgewaltige Rhetor, der in Brüssel lebte, auch im Lager der Linken stark isoliert. Einer der Gründe ist in seiner beißenden Kritik an den Sozialismen sowjetischer Prägung zu sehen. Er gab sich für Theoriekompromisse im Klima einer Entspannungspolitik zwischen Ost und West nicht her. Hier sollte er recht behalten: Den Zusammenbruch des Osteuropa- sozialismus hat er nicht nur vorhergesagt, sondern auch noch erlebt. Dagegen hat sich die Fundamentalthese seiner antikapitalistischen Streitschriften nicht bewahrheitet.

Dennoch, es bleibt das Verdienst Mandels, die Strukturen und Entwicklungsdynamik der Riesenkrake Kapitalismus dechiffriert zu haben.

Rudolf Hickel ist Professor für Politische Ökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Bremen.