Nächstes Jahr in Ramallah

„Auf keinen Fall Propaganda“ – Theaterarbeit im Schatten der neuen israelischen Siedlungspolitik. Palästinensische Pastorale? Ein Bericht aus der Jerusalemer Altstadt, dem Westjordanland und Tel Aviv  ■ Von Jürgen Berger

Der Weg führt per Bus von der Jerusalemer Altstadt in einen der neuen westlichen Stadtteile. Irgendwann taucht in einer öden Industrie- und Supermarktstraße das Gebäude auf, in dem die kleine Off-Bühne „HaBamah“ untergebracht ist. Man geht die Stockwerke hoch, als wolle man Freunde in einem Mietshaus besuchen. Oben dann, ohne daß irgendwo ein Hinweisschild gewesen wäre, gibt es tatsächlich einen Theaterraum, wo an diesem Abend die Eshet- Afra-Theatergruppe spielt. Auf der Bühne stehen zwei palästinensische und zwei israelische Schauspielerinnen, das Stück verhandelt unterschiedliche Verhaltensmuster arabischer und europäischer Jugendlicher. Iman Aoun, eine der beiden palästinensischen Schauspielerinnen, hat die erste palästinensische Schauspielschule in Ost- Jerusalem mit aufgebaut: das „Ashtar“. Dort erhalten palästinensische Jugendliche Schauspielunterricht, die Fortgeschrittenen studieren Stücke ein. „Die Schöne und das Biest“ etwa wurde in Ramallah, Jerusalem, Jericho, Gaza und Kairo aufgeführt. Zur Zeit wird „Hase, Hase“ von Coline Serreau geprobt. Nach der Aufführung treffe ich Sameh Hijazi. Er ist der Dramaturg und Trainer an dieser Schauspielschule. Wir vereinbaren, am nächsten Tag gemeinsam zu einer seiner Unterrichtstunden im Westjordanland zu fahren. Wir wollen uns im „American Colony“ treffen. Edward Muallem, der Gründer des Ashtar, soll auch mitkommen.

Am nächsten Tag wird wieder mal deutlich, daß es einfacher sein kann, von Deutschland nach Israel zu kommen, als den kurzen Weg vom Gaza-Streifen nach Jerusalem. Im „American Colony“, dem legendären Treffpunkt an der Grenze von West- und Ost-Jerusalem, erscheint nur Edward Muallem. Sameh Hijazi, so erzählt er, hänge noch in einer israelischen Kontrolle fest. Dann berichtet er von der Gründung der Schule: „Unsere Arbeit ist schwierig. Wenn wir unsere Schüler aus dem Gaza, Jerusalem und der Westbank an einem Ort versammeln wollen, geht es permanent um Passierscheine. Angefangen haben wir schon während der Intifada mit dem Theaterspielen. Einerseits, weil wir in Palästina keine ausgebildeten Schauspieler hatten, anderseits, weil wir die Jugendlichen von der Straße weg bekommen wollten. Das war eine Illusion. Dennoch denke ich, wenn wir schon keine Cafés, Discos, Sportvereine und Büchereien haben, könnte das Theater eine Möglichkeit anbieten, Jugendliche überhaupt friedlich zusammenzubringen.“ Zur Zeit werden dreißig bis vierzig Jugendliche unterrichtet, mehr Mädchen als Jungen. Finanzielle Unterstützung erhält das „Ashtar“ ausschließlich aus dem Ausland, von privaten Geldgebern und der Schweizer Kulturstiftung „Pro Helvetia“ zum Beispiel.

Edward Muallem befürchtet, das Geld könnte ausbleiben, da ausländische Geldgeber inzwischen davon ausgehen, das „Ashtar“ werde vom neuen Palästinenserstaat subventioniert. Keine völlig abwegige Vorstellung, da die Schule doch aus dem „Al Hakawati“ hervorgegangen ist, das von „Theater Heute“ als das palästinensische Nationaltheater bezeichnet wurde. Doch das „Ashtar“ wolle sich nicht vor den ideologischen Karren spannen lassen und passe nicht in die neue „Vetternwirtschaft“, die unter Arafat vor allem im Kulturbereich eingerissen sei, meint Muallem. Und Geld von israelischer Seite? Das geht schon gar nicht. „Würden wir Geld aus einem israelischen Topf annehmen, wären wir sofort unglaubwürdig. Es spricht allerdings nichts dagegen, daß wir in Israel spielen und Geld für unsere Aufführungen erhalten wie jede andere professionelle Truppe auch.“

Am nächsten Tag treffe ich Sameh Hijazi zufällig in der deutschen Botschaft in Tel Aviv. Er will mit seiner Frau nach Deutschland. Die Beschaffung des Visums kostet ihn zwei Tage. Wir verabreden uns noch einmal für den nächsten Tag. Treffpunkt ist wieder das „American Colony“. Sameh hält eines der Mercedes-Taxis an, in dem bis zu acht Fahrgäste Platz finden. Es geht mit dem Taxi in Richtung Ramallah und von dort weiter zur Bir-Zeit-Universität. Aus Jerusalem heraus geht es am israelischen Checkpoint zügig voran. In Ramallah machen wir halt und gehen im Zentrum über die zentrale Kreuzung, auf der zwei Tage zuvor ein israelischer Soldat erschossen wurde. Im nächsten Taxi geht es weiter Richtung Bir-Zeit-Universität. Auf der Fahrt sieht man wunderschön unwirtliche Bergkuppen, rötlich glänzend. Plötzlich taucht auf einer von ihnen die Campus- Universität auf.

Dort trifft Sameh sich mit seinen Schauspielschülern. Es gibt Schwierigkeiten. Der Hörsaal, in dem ansonsten trainiert und geprobt wird, ist wegen einer politischen Veranstaltung besetzt. Nach einigem Hin und Her gibt es einen Ersatzraum, er ist für Lockerungs- und Aufwärmübungen allerdings kaum geeignet, für intensives Körpertraining schon gar nicht. Sameh arbeitet einige Zeit mit der Gruppe, dann setzt man sich zusammen, um die Situation zu besprechen. Aber unversehens befinden sich die Studentinnen und Studenten in einer hitzigen Diskussion über religiösen Fundamentalismus, die Tradition der Palästinenser und die Rolle des Theater in diesem Zusammenhang. Gründerzeitpathos und Vorstellungen vom palästinensischen Volkstheater klingen an. Es fällt der Satz: „Im Theater sollte für das Volk gespielt werden.“ Sameh, der in den 80er Jahren Theaterwissenschaft in Leipzig studierte und an der Ostberliner Volksbühne sowie im Berliner Ensemble assistiert hat, heute Heiner Müller ins Arabische übersetzt, lächelt bei solchen Sätzen. Ich werde an Ali H. Qleibo erinnert, Anthropologe, Schriftsteller, Maler und Dozent an der Bir-Zeit- Universität, dessen neuestes Theaterstück demnächst am „HaBamah“ aufgeführt wird.

Sein Essayband „Wenn die Berge verschwinden“ ist auch bei uns auf große Resonanz gestoßen. Im Vorwort dazu heißt es: „Unbehagen bereiten mir einige palästinensische Stimmen im Buch, die Israel die Schuld am Einbruch der Moderne in Palästinas pastoral- idyllisches Leben zu geben scheinen.“ Das Vorwort stammt von Amos Oz, der genau den internen Konfliktpunkt anspricht, den die Schauspielschüler gerade diskutieren. Mit zunehmender Normalisierung des Lebens in den autonomen Gebieten brechen bisher versteckte Konflikte auf, moderne und traditionelle Lebensformen prallen immer stärker aufeinander. Auch die Arbeit des „Ashtar“ spielt sich auf dieser Scheidelinie ab.

Unter den Schauspielschülern gibt es einige, die eher naiv und neugierig etwas ausprobieren wollen und sich keine Gedanken darüber machen, wie die Familie reagieren würde, stünden sie tatsächlich öffentlich auf der Bühne.

Als wir die Bir-Zeit-Universität verlassen, meint Sameh, das „Ashtar“ wolle auf keinen Fall Propagandatheater machen. Es werde von daher wohl in einem gewissen Spannungsverhältnis zur neuen palästinensischen Kulturadministration stehen. Und in bezug auf Israel: „Normal sind unsere Beziehungen für mich erst, wenn ich mich mit einem israelischen Künstler unterhalten kann, ohne das Gefühl vermittelt zu bekommen, er hätte es gerne, daß ich zu ihm aufsehe.“ Glück hat die Schauspielschule insofern, als man gerade ein neues Studio gefunden hat. Nicht in Jerusalem, sondern in Ramallah. Erste Produktion des „Ashtar“ in den neuen Räumen wird diesen Sommer Shakespeares „Sommernachtstraum“ sein.

Auch wenn der der Friedensprozeß angestoßen ist: die Gewaltausbrüche nehmen zu; den Palästinensern wird Autonomie versprochen, aber Israels Siedlungspolitik hat stärker als zuvor den Charakter einer Strangulierung, bei der ironischerweise häufig ein Wort aus der lebensrettenden Herzmedizin auftaucht. „Bypass“ liest man, wenn Israel neue Straßen um palästinensische Siedlungen baut, denen früher oder später israelische Siedlungen folgen.

Am dichtesten ist das Netz um Jerusalem. Als wir am Abend wieder „drinnen“ sind, dämmert es schon. Jerusalem wirkt, anders als das pulsierende Tel Aviv, schon am frühen Abend wie ausgestorben. Zur Central Bus Station, von wo aus bis in die Nacht hinein alle zehn Minuten Busse nach Tel Aviv fahren, geht es nur noch mit dem Taxi. Im Bus kommt ein junger israelischer Soldat von einem der hinteren Sitze nach vorne, aufgeräumt und tatendurstig wie ein amerikanischer Collegeboy. Er will sich neben mich setzen und mit zwei Mädchen gegenüber plaudern. Ohne meine Antwort abzuwarten, sitzt er schon. Er ist ein Hüne, neben dem ich mir wie ein Zwerg vorkomme. Am nächsten Tag, auf dem Beduinenmarkt von Be'er Sheva am Rande der Negev, sind die Größenverhältnisse genau umgekehrt. Die Beduinen reichen mir häufig nur bis zur Schulter. Wie würde es aussehen, säße einer von ihnen neben dem jungen israelischen Soldaten?

Ali H. Qleibo: „Wenn die Berge verschwinden. Die Palästinenser im Schatten der israelischen Besatzung“. Palmyra Verlag, Heidelberg 1993. 276 S., 39,80 DM