Leben im Wartesaal im Land der Täter

■ Fünfzig Jahre lang wurde die Geschichte der jüdischen Displaced Persons ignoriert. Rachel Salamander spricht über die Gründe und über das jüdische Leben im Lager.

Rachel Salamander wurde 1949 als Kind polnisch-jüdischer „DPs“ in einem bayerischen Lager geboren. Sie ist Mitinitiatorin der DP- Konferenz, die vergangene Woche in München stattfand. Sie gründete 1982 die auf Judaika spezialisierte „Literaturhandlung“ in München, eröffnete weitere in Berlin und Wien und hat Bücher zur Geschichte der Juden herausgegeben.

taz: Frau Salamander, Sie haben die ersten sieben Jahre Ihres Lebens im DP-Lager Föhrenwald bei München verbracht. Mit der Konferenz wollen Sie, wie Sie zur Eröffnung sagten, ein Stück verdrängter Geschichte „der Ignoranz entreißen“. Was ist der Grund dafür, daß dieses Thema 50 Jahre lang ignoriert wurde?

Rachel Salamander: Ich denke, das hat zwei Gründe. Zum einen ist es eine parallele Geschichte zum Verdrängungsprozeß gegenüber dem Nationalsozialismus. So, wie viele Deutsche nicht wußten, daß ihre jüdischen Nachbarn verschwunden sind, wußten sie dann natürlich auch nicht, daß einige nach dem Krieg plötzlich wiederauftauchten. Zum anderen war die deutsche Bevölkerung sehr mit sich selber beschäftigt und konnte natürlich diese herumziehende unerwartete jüdische Masse von Flüchtlingen hier gar nicht brauchen. Sie waren eine Pein für das deutsche Gewissen.

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dem Lager Föhrenwald? War es für Sie in der Rückschau „der Wartesaal“, war es ein „Ghetto“, oder war es die Fortsetzung eines jüdischen Lebens im Lager, nur unter etwas menschlicheren Bedingungen?

Es war alles zusammen. Ein Ghetto würde ich vielleicht nicht sagen, aber es war wirklich der letzte Hauch eines ostjüdischen Schtetls, denn das Leben hat sich bestimmt nach dem Rhythmus der jüdischen Vorschriften und Feiertage. Wir haben im Lager jiddisch geredet. Ich bin in Deutschland geboren, habe sieben Jahre im Lager gewohnt, kam nach München und konnte kein Wort Deutsch. Das deutsche Judentum existierte nach dem Krieg eigentlich nicht mehr. Die Ostjuden waren der Grundstock für den Aufbau der jüdischen Gemeinden. Als die Leute 1945 hier auf deutschem Boden ankamen, dachten sie, die Welt würde sie nach diesen fürchterlichen Exzessen im Nationalsozialismus mit offenen Armen auffangen und alles tun, damit sie schnell wieder einen Platz im Leben fänden. Aber es wurde 46, 47, 48, und da erst kam der große Auswanderungsstrom nach Israel. Drei Jahre sind eine lange Zeit unter miserablen Umständen, trotz aller Hilfe. Lethargie machte sich breit. Man organisierte sich zwar selbst, aber es war ein Wartesaal, und wir waren eine Opfergesellschaft, die forderte und erst mal nichts bekam.

Wie war das Verhältnis der wenigen deutschen Juden, die überlebt hatten, zu den 1946 und 1947 aus dem Osten nach Deutschland geflüchteten Juden?

Das war immer ein sehr gespanntes Verhältnis. Es gab erst mal ein kuturelles Gefälle. Die Juden, die in Deutschland gelebt haben, waren eher Intellektuelle. Die Leute, die aus Osteuropa kamen, waren meistens Handwerker, Kaufleute. Außerdem gab es ein sprachliches Problem. Die Dominanz der ostjüdischen DPs war da, und die deutschen Juden haben letztlich keine Stimmen gehabt, um an ihr Leben in Deutschland wiederanzuknüpfen.

1948/49 verließen gerade die aktivsten Mitglieder die DP-Lager und gingen nach Palästina. Wie wurden die Zurückbleibenden mit dieser Lage fertig?

Wir fühlten uns als Sitzengebliebene. Die Lager leerten sich, wurden aufgelöst, bis nur noch Föhrenwald bestand. Und da machte sich natürlich eine hoffnungslose Stimmung breit. Denn wer blieb übrig? Es waren die psychisch und physisch Schwächsten, die sogenannten Hardcorefälle, Leute, die es einfach nicht schafften, weiterzuwandern, oder die keine Visa bekamen, weil man Kranke nicht aufnehmen wollte.

Wann tauchte die Frage einer Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft auf?

Die Frage tauchte überhaupt nicht auf. Die DP-Lager waren als Durchgangslager eingerichtet worden, und so wurden sie gesehen. Niemand dachte an die Zukunft im Land der Täter. Wir sind als Kinder aufgewachsen mit dem ganz klaren Gefühl: Irgendwann geht's hier weg. Die Frage der Eingliederung hat sich nicht gestellt. Man wurde eher so erzogen, daß man sich nicht zu sehr einlassen sollte in die Gesellschaft, denn wenn man zu starke Wurzeln schlagen würde, käme man nicht mehr davon.

Wurde für die Hiergebliebenen Deutschland irgendwann mal ein wirkliches Zuhause?

Es ist deswegen kein wirkliches Zuhause, weil wir auch jetzt immer noch permanent über diese Dinge nachdenken. Jemand, der in einem Land geboren ist, das er ohne großen Aufwand akzeptieren kann, der kann eher sagen, das ist meine Heimat als jene Leute, die permanent in Diskussion sind über sehr viele Fragen: über die Täter und warum man in so einem Land lebt. Andererseits ist man ja nicht gefragt worden, ob man hier leben will, man wurde hineingeboren.

Jeder historische Vergleich hinkt. Dennoch: Ist aus den Erfahrungen mit den jüdischen DP-Lagern nach dem Zweiten Weltkrieg etwas für den Umgang mit den Opfern von Völkermord und Vertreibung aus religiösen und rassischen Gründen zu lernen, so wie wir das heute wieder in Europa erleben?

Sollte man meinen. Mich macht das ganz verzweifelt. Deswegen fand ich diesen Kongreß so wichtig. Natürlich hinkt jeder Vergleich. Aber man kann nur aus anderen Schicksalen lernen. Ich finde es wirklich empörend, denn wir haben eine parallele Situation: daß da ein Völkermord stattfindet und daß die Welt zuschaut, wo wir uns als Kinder schon immer gefragt haben: Wie kann und konnte die Welt zuschauen, wenn so etwas passiert? Es ist wirklich zum Verzweifeln. Interview: Thomas Pampuch