■ In Goražde zieht der Westen seine neue Verteidigungslinie
: Rückzugsgefecht

Die Außen- und Verteidigungsminister der Bosnien-Kontaktgruppe haben nicht enttäuscht. In London sind genau die starken Worte gefallen, die erwartet wurden und die nötig waren. Nötig, um die Weltöffentlichkeit, aufgeschreckt durch die Bilder von der Vertreibung der Muslime aus Srebrenica, wieder zu besänftigen. Die UN-Schutzzone Goražde wird also verteidigt – notfalls „mit einer entschlossenen und schnellen Antwort“. Wie die aussieht, wird allerdings offengelassen. Auf Luftangriffe konnte man sich nicht einigen, auch wenn sie nicht auszuschließen sind. Auch ist unklar, wer die Befehlsgewalt im konkreten Fall denn hat. Und weshalb ist im Schlußdokument nur von Goražde die Rede? Hat man die bedrohten Muslime im angegriffenen Žepa bereits aufgegeben? Die Sicherheitsgarantie aus London gelte nicht nur für Goražde, ließ Kinkel verlauten. Ja, für wen denn noch? Für Sarajevo? Weshalb erzwingt die UNO nicht wieder – wie vor einem Jahr – den Rückzug schwerer Artillerie aus einem Umkreis von 20 Kilometer um die Hauptstadt, in der wieder täglich Granaten einschlagen? Oder spricht Kinkel von Bihać? Weshalb aber können denn die Krajina-Serben aus der UN-Schutzzone in Kroatien heraus die benachbarte UN-Schutzzone Bihać ungestraft beschießen? Nein, die starken Worte aus London können über die Lähmung der Kontaktgruppe nicht hinwegtäuschen. Der russische Außenminister Kosyrew hat mit seiner lapidaren Feststellung wohl recht, eigentlich habe man in London gar nichts beschlossen.

Doch der Theaterdonner aus der britischen Hauptstadt soll nicht nur die Rat- und Tatlosigkeit der westlichen Mächte übertönen. Er ist auch die Geräuschkulisse für die morgige Abstimmung im US-Senat. Clinton braucht den diplomatischen Lärm, um eine Zweidrittelmehrheit gegen ihn und für eine Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien abzuwenden. Moralisch und völkerrechtlich gibt es keinen Grund, es dem international anerkannten souveränen Staat Bosnien- Herzegowina zu verwehren, sich gegen eine Aggression mit angemessener Bewaffnung zu verteidigen. Trotzdem wäre eine Aufhebung des Embargos ein fataler Schritt. Sie würde den Waffenzufluß auf beiden Seiten schnell anschwellen lassen. Allein eine effiziente Verteidigung der bedrohten Muslime aber könnte angesichts der dramatischen Lage ein Waffenembargo gegen Bosnien noch rechtfertigen. Doch gerade die wurde nicht beschlossen.

So scheint nun alles seinen erwarteten Gang zu gehen, und die Chancen, den Krieg auf Bosnien-Herzegowina eindämmen zu können, schwinden dahin. Kroatien kündigte am Wochenende an, im Fall einer ernsthaften Bedrohung Bihaćs militärisch einzugreifen. Ob der serbische Präsident Milošević, der den Krieg auf dem Balkan entfesselt hat und der heute von der Kontaktgruppe als Schlüsselfigur jedes Friedens gehandelt wird, dann zuschaut, ist höchst ungewiß. Und den weiteren Horizont des Konflikts hat am Samstag die islamische Bosnien-Kontaktgruppe abgesteckt, die im Namen von 50 islamischen Staaten spricht: Sie erkennt das UN-Waffenembargo gegen Bosnien ab sofort nicht mehr an und ist bereit, Waffen zu liefern, sobald sie von Sarajevo bestellt werden.

Die weiteren Szenarien sind bekannt. Milošević könnte einen Krieg gegen die Albaner im Kosovo entfesseln und so die ethnischen Spannungen zwischen (muslimischen) Albanern und (orthodoxen) Slawen in Makedonien verschärfen, was Albanien und dann auch die beiden Nato-Partner Griechenland und die Türkei in den Krieg ziehen könnte. Der Angriff eines nach völkischer Reinheit strebenden Regimes auf einen multiethnischen Staat hätte sich zu einem „Krieg zwischen Christentum und Islam“ ausgeweitet. Es muß nicht soweit kommen. Doch es wird nur wenig getan, damit es nicht soweit kommt. Und bislang hat sich im dritten Balkankrieg, der schon länger dauert als der erste und zweite zusammen, noch immer die schlechteste Variante durchgesetzt. Thomas Schmid