Größe 26? Nur Gummistiefel

■ Bremer Kleiderkammern leiden Mangel – verfilzte Pullis will schließlich niemand

Schwer atmend steigt eine hochschwangere Türkin die Kellertreppe zur Kleiderkammer des Diakonischen Werks in der Blumenthalstraße hinunter, setzt sich auf den Stuhl vor dem Tresen und streckt die geschwollenen Füße von sich. Die älteste der drei Töchter muß der Dame hinterm Tresen übersetzen. Ob Frau Liebeskind ein Umstandskleid habe? Hat sie nicht, leider auch keinen Rock mit Gummizug mehr, nur noch einen weiten graulilabeige-farbenen Pulli. Ob Frau Liebeskind dann vielleicht Babykleidung hat? Alles weg. Sandalen für die Mutter? Nein, nur noch Alt-Damen-Schuhe oder hochhackige Pumps da. Jetzt traut sich auch eins der Mädchen vor: „Haben Sie Leggings?“ Frau Liebeskind schüttelt erneut den Kopf. „Wenn die Leute welche haben, tragen sie sie selber ab,“ erklärt sie dem Kind. Schuhe für den kleinen Sohn? Größe 26? In Größe 26 gibt's nur noch ein Paar Gummistiefel. Weil die Familie jetzt gar so trübsinnig schaut, greift Betty Liebeskind in eine Schachtel hinterm Schreibtisch und stellt zwei Spielzeugautos vor den kleinen Sohn.

Auf den ersten Blick scheinen die drei Räume der Kleiderkammer des Diakonischen Werks gut gefüllt – Stapel von Hemden, Stangen voller Jacketts. Doch der Eindruck täuscht. An den meisten Kleidungsarten herrscht großer Mangel. Sowieso an Umstandskleidung. Ebenso an Kinderkleidung. „Aber wir haben jetzt auch keine Männer-Unterwäsche mehr und gerade noch zwölf Männer-T-Shirts“, sagt Betty Liebeskind (59), die die Kleiderkammer betreut. Die Kleiderkammer kann an Bedürftige eben nur das abgeben, was andere Leute spenden oder was bei einer Haushaltsauflösung bzw. einem Sterbefall in einem Heim übrigbleibt.

Und dieses Wenige ist dann häufig nicht das Passende. „Heute morgen war eine Frau da, Größe 52, der konnte ich mit Hängen und Würgen eine Strickjacke finden, die sie dann noch nicht mal richtig zumachen konnte.“ Große Größen sind absolute Mangelware. „Die Rußlanddeutschen sind halt sehr stark“, erklärt Betty Liebeskind. Röcke mit Grummizug gehen sofort weg, ebenso lange Röcke, danach fragen Türkinnen. Frau Liebeskind blättert ratlos in dem flachen Stapel Damenhosen – die größte gerade mal Größe 44.

Und dann haben manche ihrer KundInnen eben auch noch einen Rest von modischem Bedürfnis... Wer will denn heute noch Stoff- oder Strickhosen! Betty Liebeskind kann ihre Kundschaft gut verstehen, „aber ich kann die Sachen doch auch nicht herzaubern, wir sind eben kein Modehaus hier“. Sicher, junge Männer bekommen eher ein „Sweetshirt“, ältere eher einen Pullover, aber da hört die Rücksicht auf Modebedürfnisse auch fast schon auf. Mit Jeans und Blousonjacken kann sie meistens nicht dienen. Auf Mänteln dagegen bleibt sie regelmäßig sitzen. Nur die Obdachlosen sind froh, wenn sie im Winter einen langen Mantel bekommen.

Dankbar zieht kurz vor Schluß um 12.30 Uhr auch ein 56jähriger von dannen – mit einer Unterhose, einem Paar Socken, einem Pulli und einer Jeans unterm Arm. „Das hier“, sagt er und zeigt auf die Kleider, die er anhat, „hab ich doch schon ein paar Tage an, das muß ich im Jakobus-Haus endlich waschen“. Die heißersehnten Sandalen bekam er allerdings nicht – in den Fächern für Herrenschuhe Größe 41 bis 44 herrscht gähnende Leere. Der Mann strahlt trotzdem: 15 Jahre war er obdachlos, am Freitag ist ihm eine Wohnung zugesagt worden. „Jetzt fang ich ein neues Leben an.“ Auch Betty Liebeskind freut sich, nicht nur über die Zufriedenheit des Kunden, sondern auch über seine Gepflegtheit. „Bei manchen Obdachlosen geh ich mit dem Desinfektionsspray hinterher durch den Flur – wenn die die Hosen voll hatten“.

Aber auch solche Kunden bedient sie freundlich. Worüber Betty Liebeskind richtig „toben“ könnte, sind manche SpenderInnen. Was man ihr so auf den Tesen legt: Sachen, die im Trockner ihre Form verloren haben, verfilzte und verfärbte Pullover, ausgeleierte Büstenhalter ... „Dabei schreiben wir doch extra immer: ,guterhaltene Kleidung'! Aber Hauptsache, sie sind's los! Und ich kann dann vieles nur in den Sack stecken für Bethel, die verkaufen das in die 3. Welt oder machen Putzlappen draus, oder wir schicken die Sachen nach Rumänien zu unseren Partnergemeinden.“ Besonders erbost ist Frau Liebeskind über Jacketts mit speckigem Kragen. „Die Leute sind ja so schon beschämt, daß sie gebrauchte Kleidung nehmen müssen – aber dann noch dreckige!“

Zumindest sauber und guterhalten sind die Kleider, die jetzt eine ältere Frau auf dem Tresen auspackt: lauter Blusen. Frau Liebeskind bedankt sich artig, aber desinteressiert. Alles frisch gewaschen, sagt sie, als die Frau gegangen ist, aber die Blusen sind entweder zu kurz oder zu eng für ihr Hauptklientel. „Wir machen natürlich immer unseren Bückling“. Schwer fällt ihr das allerdings, wenn SpenderInnen sagen: „Wir waren doch auch damit zufrieden, als wir nichts hatten – damals.“ Mag ja sein, denkt sich Betty Liebeskind dann, aber wer will heute noch fleckige Leintücher? cis