Pflegebedürftige verschaukelt

■ Wie die Pflegeversicherung Löcher ins Portemonnaie von Behinderten reißt / „Ungleichbehandlung Gleicher“

Edda Jankowski hat Existenssorgen. Die Rechtsanwältin und alleinerziehende Mutter eines nichtbehinderten Sohnes und einer geistig behinderten Tochter weiß seit Juni oftmals nicht, wie sie im nächsten Monat über die Runden kommen soll. Der Grund: Nach den Bestimmungen der Pflegeversicherung sollte sie monatlich neben der Bezahlung der Pflegekräfte zusätzlich Geld vom Sozialamt bekommen. Das bekommt sie auch, nur zwei drittel weniger als vorher. Und das, obwohl die Pflegeversicherung solche Fälle eigentlich ausschließen sollte – sagen die Behindertenverbände. Das Sozialamt sieht das ganz anders und bleibt bei seinen Kürzungen. Jetzt hat Edda Jankowski gemeinsam mit anderen Betroffenen geklagt.

„Wenn ich nicht bald wieder ausreichend Pflegegeld für meine Tochter bekomme, kann ich meine Kanzlei bald dichtmachen“, befürchtet sie. Sie arbeitet halbtags, um nachmittags ihre zehnjährige Tochter Louise betreuen. Um überhaupt noch arbeiten zu können, wird sie vormittags und an den Wochendenden von BetreuerInnen der Bremer Assistenzgenossenschaft entlastet. Neben der Finanzierung der HelferInnen durch die Pflegekasse hat sie die Pflegegeldzahlungen des Sozialamtes fest in ihre Haushaltsplanung miteinbezogen – wie viele, die auf ambulante Pflege angewiesen sind: „Sie ermöglichen mir ja erst, meine Tochter überhaupt zu pflegen“.

Bei der Einführung der Pflegeversicherung zum ersten April dieses Jahres hatte sie wie alle bisherigen PflegegeldemfängerInnen die Wahl: Entweder Pflegegeld oder Pflegesachleistung. Durch die Sachleistungen werden Pflegekräfte eines ambulanten Dienstes direkt durch die Pflegekasse bezahlt. Pflegegeld heißt Direktüberweisung der Mittel. Da sie ja auf die HelferInnen angewiesen ist, mußte sich Edda Jankowski für die Pflegesachleistung entscheiden. Finanzielle Nachteile sollten ihr dadurch jedoch nicht entstehen; schließlich gibt es ja den Artikel 51 des Pflegeversicherungsgesetzes, der die volle Besitzstandswahrung zusichert, dachte sie.

So ahnte Edda Jankowski auch zunächst nichts Böses, als sie Anfang Juni die Zahlungen des Sozialamtes auf ihren Kontoauszügen vermißte. Erst durch Nachfragen erhielt sie schließlich Anfang Juli den Bescheid des Sozialamtes, daß die Zahlungen rückwirkend zum ersten Juni zunächst eingestellt worden seien, um ihren Anspruch auf Pflegegeld zu überprüfen. Mitte Juli wurden die Zahlungen wieder aufgenommen, allerdings: Die vor dem ersten April auf 936 Mark festgesetzten Pflegegeldzahlungen waren auf 266 Mark gekürzt worden. Denn die seit April geltenden Bundessozialhilfevorschriften erlauben den Sozialämtern nicht nur wie bisher um 50 Prozent, sondern sogar um zwei Drittel zu kürzen.

Doch dies widerspricht der nach Artikel 51 geltenden Besitzstandswahrung, meint Wilhelm Winkelmeyer vom Bremer Verein SelbstBestimmtLeben: „Die Bremer Sozialbehörde zieht den Kreis derjenigen, die sich auf Besitzstandswahrung berufen können, enger als erforderlich“. Das heißt, in Bremen gilt für den Sozialsenator der Artikel 51 nur für diejenigen, die bei der Einführung der Pflegeversicherung Pflegegeld und nicht Pflegesachleistung beantragt haben. „Für mich ist das eine Ungleichbehandlung Gleicher“, meint Edda Jankowski, die neben ihrem Widerspruch gegen den Sozialamtsbescheid in Vertretung von vier MandantInnen und ihrer selbst Anträge auf einstweilige Anordnung beim Oberverwaltungsgericht gestellt hat. Ein Erfolg konnte bereits verbucht werden – die Sozialbehörde mußte bei einer Mandantin Jankowski die bisherigen Pflegegeldbeträge in voller Höhe weiterzahlen. Doch da die Behörde wahrscheinlich Beschwerde gegen diesen Beschluß einlegen wird, ist die finanzielle Situation der Mandantin und aller anderen Betroffenen trotzdem nicht dauerhaft gesichert.

„Wir sind jedoch jetzt dringend auf das Geld angewiesen und können nicht monatelang warten“, sagt Jankowski. Sie, die wie arbeitendes Mitglied der Bevölkerung selbst Beiträge in die Pflegegkasse einzahlt, sieht dies als blanken Hohn an: „Da zahl– ich auch noch was dafür, daß die bei mir wieder kürzen“. Auf jeden Fall gehe das Verhalten des Bremer Sozialsenats eindeutig zu Lasten der Betroffen, meinen Winkelmeier und Jankowski einhellig: „Hier werden Spamaßnahmen auf dem Rücken der Behinderten ausgetragen“. Beiden ist die Bewilligungspraxis der Sozialbehörnde völlig unklar, zumal diese eigentlich nicht so handeln müßte, wie Winkelmeier meint. Schließlich hat der Bundestagsauschuß für Arbeit und Sozialordnung empfohlen, den Artikel 51 „zum Wohle der Behinderten und Pflegebedürftigen anzuwenden“.

„Der Bundestagsausschuß ist jedoch nicht weisungsbefugt für die Sozialämter. Erst wenn das Gesetz geändert wird, können wir auch unsere Bewilligungspraxis ändern“ hält Gerd Wenzel, Abteilungsleiter bei der Bremer Sozialbehörde den Vorwürfen entgegen. Schließlich hätte der Sozialsenator dieses – so Wenzel – „mißlungene Gesetz“ nicht gemacht, müsse sich jedoch daran halten. Mutmaßungen, hinter dem Verhalten seiner Behörde versteckten sich Sparmaßnahmen, streitet er ab und stellt außerdem klar: „Die Behauptung, daß die Besitzstandswahrung auch auf diejenigen anzuwenden ist, die Pflegesachleistung beantragt haben, ist sachlich falsch“.

Ob nun sachlich falsch oder nicht, fest steht, daß 40 der 2.000 Pflegebedürftigen, die vom Sozialamt Pflegegeld bekommen haben, einen Antrag auf einstweilige Anordnung beim Oberverwaltungsgericht gestellt haben. Für sie, die nach der Einführung der Pflegeversicherung eindeutig weniger Geld auf dem Konto haben, klingen die Lobeshymnen Norbert Blüms auf die Pflegeversicherung wie ein schlechter Witz . rem