„Das berührt uns doch schließlich alle“

Zwei Züricher Ausstellungen zeigen den Kampf um öffentlichen Raum bei der Vertreibung von Junkies  ■ Von Jochen Becker

Schon mehr als zwanzig Jahre währt in Zürich der Streit zwischen Drogenszene und Bürgertum. Die Konflikte sind nicht nur thematischer Art – Fragen der Legalisierung, Geldwäsche, Abschiebung von Migranten oder einer rapiden Verelendung werden in den Schweizer Medien breit diskutiert. Spätestens seit Einrichtung einer Fixerstube im 1982 wieder geräumten Autonomen Jugendzentrum (AJZ) gegenüber dem bahnhofsnahen Platzspitz-Park bis zur jüngsten Räumung des Letten- Areals tobt zudem ein Kampf um das Aufenthaltsrecht an öffentlichen Plätzen. Immer wieder vertrieben, suchten sich die „Drögeler“ neue Orte – nicht nur für Handel, Austausch und Fixen, sondern auch als einen Platz für ihre temporäre Gemeinschaft.

Präsenzkampf um Konsum und Drogen

„Auch wir haben Anrecht auf den Schutz von Leben [...] Welche sind eigentlich die Betroffenen und welche sind die Leidenden?“ Herr Müller, Sicherheitsbeauftragter der Einzelhandelskette Migros, bezeichnet sich im Rahmen einer Interviewreihe, die auf Videomonitoren zur Ausstellung „Letten it be“ läuft, als „Direktbetroffener“ des Zürcher „Drogenkriegs“: „Massiv involviert wurden wir nach der Platzspitz-Schließung, als an einem Wochenende plötzlich 200 bis 300 Drogenabhängige auf der Migros-Tankstelle am Sihlquai Schutz vor dem Regen suchten. Sie dealten und spritzten und erhitzten den Stoff mit Feuerzeugen, und das auf einer Tankstelle [...]. Das hat an diesem Wochenende zu einem Umsatzrückgang von 10.000 Franken geführt.“ Wenn Geld im Spiel ist, hat die Geduld ein Ende. Der Stabsstellenleiter im Migros- Genossenschafts-Bund stellte sich an die Spitze einer Bürgerbewegung und klagte bei der Stadt um drei Millionen Franken Schadenersatz: „Tatsächlich standen, nicht nur seitens der Migros, sondern im ganzen Quartier, Millionenwerte auf dem Spiel. Da waren Ladenbesitzer, die um den Wert ihrer Liegenschaften fürchteten.“ Der Prozeß jedoch sollte nur „Mittel zum Zweck“ bieten, vorrangig wollte man mit der Klage „Öffentlichkeit einsetzen, etwas in Bewegung bringen“ und vor allem die Stadt unter Zugzwang bringen.

Zwar bezieht sich Herr Müller immer wieder auf „Lebensqualität“, die „massiv eingeschränkt“ wurde. Er selbst wohnt jedoch nicht im Viertel. Direkten Kontakt mit Fixern hatte der aktenkundige Migros-Wächter vor allem dienstlich. Nur ein Erlebnis in der Firmentiefgarage stürzte ihn, wie er sagt, in private Zweifel, ob er mit dem jungen Mann beim Auto diskutieren, ihn mitnehmen oder doch im nachtkalten Regen stehenlassen sollte. Dagegen formierte sich unter dem vorgeblichen gemeinsamen Leidensdruck eine immer stabilere Koalition aus Quartiersbewohnern, Geschäftsleuten und Politikern gegen die Junkies. „Das berührt uns alle. Als Eltern, Väter, Staatsbürger und als Unternehmer“, betont Müller die Sorge der bürgerlichen Anwohnerschaft und macht auch klar, wer nicht dazugehört: Ausländer, Junkies, Jugendliche. Dabei wird unterschlagen, daß gerade der Bezirk 5 in der Vergangenheit von diesen Gruppen gelebt hat – und daß sich auch die Einzelhandelskette im ehemals proletarisch geprägten Quartier eingenistet hat.

Wer also spricht hier für wen? Eine Antwort bleibt die Ausstellung „Letten it be“ trotz ihrer scheinbaren Vielstimmigkeit aus 14 Videointerviews („Letten- Talk“) und 44 abrufbaren Fernsehberichten („Letten-TV“) schuldig. Unter den Gesprächspartnern ist nur ein Alibi-Junkie und kein einziger Migrant, dagegen überproportional viele liberale Akademiker und Dienstleister. Wie der Migros-Stab – „wir haben Rapporte und Journale geführt und fotografiert und konnten auf diese Art belegen, was los war“ – gingen auch die Kuratoren Martin Heller und Claude Lichtenstein gemeinsam mit dem Ethnologen Heinz Niggs in ihrer Ausstellung allein deskriptiv vor; und wie Migros hatte das Museum für Gestaltung bis zur Räumung des in direkter Nähe liegenden Drogen-Areals einen privaten Wachschutz engagiert.

Das Letten-Areal war schon früher ein Ort für Obdachlose. Der Streetworker (schweizerisch: Gassenarbeiter) Giovanni Blumer beschreibt den Kiez aus der Perspektive von BewohnerInnen: als wehrburgartiges Labyrinth aus verdeckten Unterführungen, Schlupflöchern und Fluchtwegen, als Marktplatz für Informationen, Stoff oder Kontakte. Was laut Sozialwissenschaftler Günther Amendt diesen Drogenmarkt „so interessant macht, sind exakt jene Standortvorteile, welche auch die Attraktivität der Stadt als Handelszentrum und Finanzplatz ausmachen“. In dieser Parallelwelt herrscht jedoch das Gesetz des Schwarzmarkts und nicht die Bedienung an der Käsetheke: Das Recht des Stärkeren wird spürbarer durchgesetzt und auf Polizei als Schlichter verzichtet. In Zürichs City überlagern sich offensichtlich zwei widerstreitende Interessenverbände, die um Präsenz im Weltdorf kämpfen. Das legale Kapital nutzt die Ängste seiner Kunden, um mit Hilfe der Stadt die zum organisierten Widerstand nicht fähigen Junkies aus dem Stadtbild zu vertreiben. Diese wiederum treibt der stete Druck, der sie auch nach der Letten-Räumung auf der Suche nach Stoff durchs Quartier stromern läßt. Daß von den hohen Preisen nicht zuletzt die Geldwäscher und Banken profitieren, pfeifen die Spatzen von den Dächern.

Wiesen für Kiffer und autonome Camper

Während die Polizei neue Ansammlungen oder gar einen offenen Drogenmarkt zu verhindern sucht, wird das Letten-Areal mustergültig als öffentlicher Park angelegt. Vorbild ist der ebenfalls legendäre Platzspitz und seine Umwandlung vom Terrain der Junkies zum sauber umzäunten und allseitig einsehbaren Park. Um diesen nicht zuletzt für die Zürcher Jugendbewegung (und die sie aufnehmende Drogenszene) historischen Ort handelt die Ausstellung „Platzwechsel“ in der Kunsthalle Zürich mit einer Zweigstelle im Landesmuseum direkt am Eingang des Parks. Ausstellungsleiter Bernhard Bürgi sieht im Platzspitz- Areal das „Modell eines öffentlichen Raums“, das seit dem 14. Jahrhundert als Weideland, Schützenplatz, Lagerstätte für „Zigeuner“, militärisches Übungsgelände, Baumschule, nach Jauche stinkendes kommunales Pflanzland, Brautschauterrain und Ausstellungsareal mit Grotten-Aquarium und Bärenzwinger diente. 1968 sollte die Grünfläche einem Autobahnknoten, zehn Jahre später der geplanten „Reanimation“ durch den Rummelplatz „Züri Park“ weichen. Auf dem seit den 40er Jahren als schwules Cruising- Terrain genutzten Gelände fand 1978 die erste Christopher-Street- Day-Party mit einer New-Wave- Band statt, siedelte sich das jugendbewegte Pfahlbaudorf „Chaotikon II“ an und gründete sich der „Needle Park“, Europas größter Umschlagplatz für Drogen (und anderes Gut). Bis zur Räumung, Umgestaltung und kontrollierten Wiedereröffnung Anfang der 90er Jahre wegen „Zerstörung und Übernutzung“ übernachteten hier bis zu 3.000 Camper. Das Bild vom Platzspitz ist eng mit der Zürcher Jugendbewegung der 80er Jahre verbunden, gut sichtbar für die vorbeifahrenden Pendler: Gegenüber lag das 1982 niedergerissene Autonome Jugendzentrum, hier siedelte sich die Alk-, Kiffer- und Heroinszene an, wurden Vollversammlungen abgehalten, und der alte Musikpavillon bot Platz für Open-air-Konzerte.

1981 gestaltete der damalige Kunststudent Christian Philipp Müller das erste Handbuch der Schweizer Homosexuellen Arbeitsgruppe, „anderschume“, das nun in der Kunsthalle neben Dokumenten aus sechs Jahrhunderten unter Glas und Rahmen ausliegt. Etwas zu wörtlich ausgelegt, steht dort der maßstabverkleinerte Platzspitz als „Modell eines öffentlichen Raums“ und finden sich neben alten Stichen ebenso akkurat gehängte Berichte der New York Times zum Zürcher „War on Drugs“. Im Hauptraum haben sich männliche Künstler mit voluminösen Objekten positioniert: Mark Dions Öltonnenfloß samt Nisthaus, Baumresten und ausgestopften Vögeln aus der Region verweist auf „eine Diversität von Wasservögeln, von denen man manche in ganz Europa nur selten findet“ und erkennt an diesen Tieren ihre ungemeine Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Lebensräume. Tom Burr nahm einen fiktiven Platzwechsel vor und rekonstruierte in der Halle ein buschig-vermülltes Landschaftseckchen, „datiert auf ca. 1977“.

Ganz anders der Platzwechsel bei Ursula Biemann, die ihre St. Gallener Bekannte Saadet Türköz mit regionalen Hüten aus der Schweizer Trachtensammlung des Landesmuseums abfotografierte, während sie auf den dazugehörigen Holzköpfen den Kopfschmuck einer Bursanerin und Anatolin plaziert. Damit rekuriert sie auf die kolonialistische Geste, mit der das Land ohne Ländereien in Übersee nubische oder feuerländische Kulturen vorzugsweise in Zoos und Vergnügungsparks zur Schau gestellt hatte.

Nationale Aufwertung – so demonstriert diese Arbeit nachhaltig – wird auch durch Abwertung „Fremder“ betrieben. Im Unterschied zu den letztlich allegorischen Ansätzen ihrer Kollegen, die den Status quo in komprimierter Weise feststellen, greift Ursula Biemann die eingeprägten Bilder an, in denen sich Rassismus oder aggressive Marginalisierung äußern. An die Stelle der „Wilden“ sind nunmehr die Junkies getreten, die von der Sonderpolizei wie Vieh behandelt werden. Inzwischen hat sich die Perspektive wieder etwas verschoben: Jetzt richtet sich der Zorn nicht mehr nur gegen die Junkies, sondern gegen die „libanesischen Drogendealer“, denen man durch Verabschiedung von Ausländergesetzen, Kriminalisierung und Abschiebung beikommen will. „Der Dealer verletzt die Menschenwürde sicher in einer anderen Form, indem er unseren Schweizern die Ware verkauft – um des Geldes willen. Ich empfand deshalb nie ein Bedauern, wenn die sich ausziehen mußten.“ Bruno Inauen, Einsatzleiter bei der Drogenpolizei und Videogesprächspartner der Letten-Ausstellung, kann sich auf den anwachsenden Rassismus verlassen. Hatten früher ganz normale Bewohner schon mal vernehmlich genörgelt, wenn die Polizei einen Drögeler zu hart anfaßte, rufen inzwischen selbst Linke nach der Staatsgewalt. Diese antwortet mit Gummischrot.

Mit Kunst und Kultur gegen die Drogensub

Kirchengemeindepräsident Helmuth Werner engagiert sich neuerdings in der „Quartiers-Marketingkommission“, um mit Unterstützung der Migros das Viertel durch Kunst und Konzerte aufzuwerten. Und so befinden sich die beiden im Quartier gezeigten Ausstellungen in einem zwiespältigen Kontext, zu dem sie sich allenfalls schweigend verhalten. „Die Bevölkerung ist eingeladen, mitzuhelfen, das Blatt Spitz zu wenden und ein neues, lebensfrohes Kapitel zu eröffnen“, verkündete die Zürcher Baustadträtin Kathrin Martelli in der Broschüre des Gartenbauamts. Während Gras wächst über Platzspitz und Letten und der öffentliche Druck die Junkies sich in die Häuser hat flüchten lassen, zieht die städtische Säuberungswelle weitere Kreise. Nun bildet der Rotlichtbezirk rund um die Langstraße den nächsten Feind, wo Schmutz, dunkle Machenschaften und sich prostituierende Migrantinnen weggeschafft werden sollen. Schon lange werden diese Stadtteile als Entwicklungsgebiet für neue Bürogebäude ins Auge gefaßt; nicht zuletzt deshalb mußte auch letztes Jahr das besetzte Wohlgroth weichen. Übergibt die Stadt Zürich die Kreise 4 und 5 besenrein?

„Platzwechsel“, Kunsthalle und Landesmuseum Zürich; „Letten it be“, Museum für Gestaltung Zürich. Beide Ausstellungen bis 30. Juli. Schon letztes Jahr hatte die Shedhalle Zürich sich mit der Arbeitsgruppe „8WochenKlausur“ und anderen um die Inbetriebnahme einer Pension für drogengebrauchende Frauen gekümmert. Hierzu ist im Werd Verlag, Zürich, eine Broschüre erschienen.