Monumentale Überbauung

Geteilte Erinnerung – geteilte Vergangenheit. Drei Bücher über die Schwierigkeiten des Gedenkens in deutschen Landen.  ■ Von Mirjam Schaub

Daß die Geschichte der deutschen Teilung auch die Geschichte einer geteilten Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit und den Widerstand gegen die Nazis sei, steht am Anfang eines neuen Buches zum Thema Gedenken. Hier werden, wenn man so will, zwei Brenngläser – eins konkav und eins konvex – mit unterschiedlichen Brennweiten übereinanderlegt und ins Licht (der jüngsten Geschichte) gehalten. Wird das Papier darunter zünden?

Vor bald zwei Jahren veranstalteten ost- und westdeutsche Historiker in der Forschungsstelle für Zeithistorische Studien in Potsdam ein Symposion zum Thema (des späteren Buches): „Die geteilte Vergangenheit“. Man widmete sich der Frage, welche kulturellen Inbilder das Selbstverständnis der beiden deutschen Staaten geprägt haben und welche Bindekraft dabei der Frage zukam, wie der Nationalsozialismus zu überwinden sei. Mit einigem Recht hat die sowjetische Besatzungsmacht für sich in Anspruch genommen, ehemalige Nationalsozialisten nicht nur verfolgt, enteignet und verurteilt, sondern auch dauerhaft aus Amt und Würden gejagt zu haben, während die Entnazifizierung in den anderen Besatzungszonen eher halbherzig geschah.

Doch die Buchbeiträge gehen über die hieran anknüpfenden, bekannten deutsch-deutschen Instrumentalisierungen und Ideologisierungen hinaus. Zurückgewiesen werden insbesondere die Zerrbilder vom „verordneten Antifaschismus“ der DDR (die sich moralisch gegenüber Israel wieder ins Recht gesetzt sah) und vom BRD- „Paradies für Nazis“ (das zwar Entschädigung an Israel zahlte, aber ranghohe Alt-Nazis wie Hans Globke, Theodor Oberländer, Filbinger zu staatstragenden Größen machte). Die meisten Autoren vertreten – trotz aller Differenzen im Detail – die Ansicht, daß beide deutsche Staaten in den 50er Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen haben, die – schlicht – „Pgs“ genannten Nazis (und nicht nur die Mitläufer!) gesellschaftlich und politisch zu integrieren, das heißt sie dienstbar zu machen, dem DM-Nationalismus ebenso wie der sozialistischen Planerfüllung. Diese Einschätzung mag man nun teilen oder nicht. Jürgen Danyel, der Herausgeber, versteht das Buch als einen Beitrag zur „Versachlichung“ des Gedenkdiskurses.

Nichts erfährt man allerdings über die eigentümliche Art der kollektiven Sinnstiftung durch Denkmäler, die nach 1989 errichtet wurden, das heißt über die ,wiedervereinigte Erinnerung‘ einer scheinbar geteilten Vergangenheit und die Les- und Interpretierbarkeit der neuen Formensprache.

Diesen Schwächen auszuweichen, sei an dieser Stelle auf das Büchlein „Gedenkstätten im vereinten Deutschland“ hingewiesen. Hier geht es am Beispiel vor allem brandenburgischer KZ-Gedenkstätten um die Neukonzeption veralteter – und ideologisch stark besetzter – Ausstellungskonzepte. So wird die einseitige Ausrichtung auf den kommunistischen Widerstand, die Ausblendung von Einzelschicksalen zugunsten von Kollektivinteressen am augenfälligsten in der monumentalen Überbauung und Veränderung authentischer Orte, die es – wie es der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Günter Morsch, formuliert – dem Besucher mitunter unmöglich machen, „die Geometrie des totalen Terrors zu erkennen“. (So geschehen im Fall des Appellplatzes von Sachsenhausen, wo einerseits eine neuerrichtete Betonmauer den Blick auf die Revierbaracken versperrt, während die eigentliche Sichtmauer, die die „Station Z“ – das Krematorium – vom KZ trennte, 1953 von der Volksarmee gesprengt wurde, um einer riesigen Betonüberdachung Platz zu machen, die sich nun wie eine Grabplatte über die Fundamente legt. Um sie allein zu sanieren, braucht man heute zwei Millionen Mark.) Nicht leicht ist es, dieser verwickelten Problematik gerecht zu werden, zumal die Aufarbeitung der KZ-Geschichte nach 1945 erst beginnt, und unklar ist, wie man an gleichem Ort den Opfern Hitlers und Stalins gedenken soll, ohne gleich Verbrechen unterschiedlicher „Qualität“ und „Quantität“ gegeneinander aufzurechnen und zu kürzen, bis der Exkulpation aller – rein rechnerisch! – nichts mehr im Wege steht.

Vielversprechender als das deutsch-deutsche „Klein-Klein“ (Götz Aly) sind hier die Beiträge der internationalen Beobachter, vor allem die Texte von Mordechay Lewy und Douglas H. Jones.

Beide verstehen es meisterlich, die deutsche „Litanei des Jammers“, das viele „Selbstmitleid“, die Rhetorik der „Normalität“ klug und gelassen zu unterlaufen. Sehr frei spricht Lewy (bis 1994 israelischer Konsul in Berlin) über das „traumatische Schweigen“ am Ende der Shoa im eigenen Land, den späteren „Versuch einer Sinngebung des Sinnlosen“, die „Erziehungsarbeit“ im eigenen Land, bevor er auf die deutschen Neonazis zu sprechen kommt, die man nach Yad Vashem brachte, um sie dort „umzulernen“. (Was Lewy einigermaßen monströs erscheint angesichts der Nähe der besuchbaren KZs in Deutschland.) Und der Amerikaner Jones fragt höflich an: „Dies ist eines der glücklichsten Länder der Erde. Warum fällt es den Deutschen so schwer, ihr eigenes, verdientes Glück wahrzunehmen?“

Wer mehr über die Tücken der deutschen Erinnerungskultur erfahren will, dem sei zuletzt die kleine, feine „Arbeit am nationalen Gedächtnis“ ans Herz gelegt. Entlang dem deutschen Bildungsbegriff (und -ideal) zeichnet Alaida Assmann die Brechungen und Perforationen eines nationalen Selbstbildes, das heißt Gedächtnisses nach, das sich als kulturelles geriert. Im säkularisierten Deutschland des 19. Jahrhunderts stehen Denkmäler „im Zentrum einer profanen Religion“. Sie sind „affektbeladene“ symbolische Orte, in denen sich die „abstrakte Idee der Nation versinnlichen und ihr die Aura des Numinosen geben“ soll. Sie leisteten das, was heute die Medien tun: Sie inszenierten die Vergangenheit in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit und Unwirklichkeit.

Im medialen – pikturalen und textualen – 20. Jahrhundert gilt dies natürlich im strukturalistischen, totalitären Sinn: Jedes Denkmal hat seine eigene Rhetorik. Die Formsprache der gegenwärtigen Gedenkdebatten (Neue Wache, Holocaust-Denkmal Berlin) ist schwerlich überhörbar. Während Ende der 80er Jahre zum Beispiel Künstler wie Esther und Jochen Gerz Fragmentarität, Fragilität und Flüchtigkeit des Erinnerns selbst zu inszenieren wagten, sind mit dem Fall der Mauer, mit dem neugewonnenen Geschichtsoptimismus auch wilhelminische Gedenkposen, raumgreifende Stein- und Stahlplatten zurückgekehrt.

Die Gefahr, daß ein koketter Augenniederschlag auf einer 100 mal 100 Meter großen, begehbaren Grabplatte wieder als schamvoll gelten kann, daß ein Mahnmal sich in erster Linie als zentrale „Kranzabwurfstelle“ (taz, 15. 11. 93) anbietet, wächst mit der neuen Liebe des vereinigten Deutschland zu staatstragenden Monumentalsockeln, errichtet im Gestus des generösen, kollektiven Vergessen-Dürfens. Der Wunsch nach letztgültiger Entlastung paart sich mit der Suche nach unverdächtigen Orten in einem Land, das über Schädelstätten deutscher Greueltaten zur Genüge verfügt. Ein nationales Denkmal soll nun stellvertretend und da, wo es nicht schmerzt, die Wunde des Nazismus schließen. Nur dort, wo die Ermordeten verscharrt liegen, da, wo ihre Asche den Boden fruchtbar macht, findet sich keine „platte Platte“ (Salomon Korn), eher schon graminis herba ... Und wo nichts als Gras zu sehen ist, da ist auch nichts geschehen.

Jürgen Danyel (Hrsg.): „Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten“. Mit guter Bibliographie (1989–1994). Akademie Verlag Berlin 1995, 264 Seiten, 68 DM

Jürgen Dittberner/Antje von Meer (Hrsg.): „Gedenkstätten im vereinten Deutschland. 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager“. Edition Hentrich, Berlin 1994, 150 Seiten, 24,80 DM

Alaida Assmann: „Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee“. Campus Verlag (Edition Pandora) 1993, 113 Seiten, 26 DM