Ehre sei Gott in der Wüste!

■ taz-Heimatkunde (3): Wo die Zuhälter keine sind, die Parkplätze nie voll werden und der „Gnarrenburger Bote „Bayerkurier“ heißt: da ist eine Taille im Teufelsmoor namens Gnarrenburg

Im „nassen Dreieck“ zwischen Weser und Elbe kennt und schätzt man Gnarrenburg. Die Bekanntheit Gnarrenburgs verdankt sich einem Paradox: auf dem weiten flachen Land des Elbe-Weser-Raums sind Parkplätze knapp. Gnarrenburg aber wartet mit dem weltweit günstigsten Verhältnis zwischen Gemeindefläche und Parkplatzfläche auf. Bewohner der ehemaligen Kreisstadt Bremervörde fahren regelmäßig nach Gnarrenburg, um dort bei Aldi einzukaufen, weil Aldi in Bremervörde zu wenig Parkplätze hat. Dieser Umstand bedingt, daß Gnarrenburg dem Durchreisenden amerikanisch vorkommt.

Am besten nähert man sich Gnarrenburg von Glinstedt aus. Glinstedt liegt etwa 5 km nördlich von Hanstedt, welches 37 km nordöstlich von Bremen liegt. Der erste Eindruck von Gnarrenburg: die Raiffeisen-Tankstelle am Ortseingang (“Gesundes Tanken durch Gasrückführsystem“). Der zweite Eindruck: Westernstadt. Die Fassaden der Häuser am Rand der Hindenburgstraße wirken in ihrer riskanten Stilmelange wie eilig für einen Hollywood-Showdown aufgerichtet. Man erwartet Flintenläufe auf Balkongeländern.Der dritte Eindruck: Parkplätze.

Gnarrenburg verdankt seine Existenz der Tatsache, daß an dieser Stelle das weltbekannte Teufelsmoor eine „Taille“ hat. In vorgeschichtlicher Zeit wurde hier ein Knüppeldamm angelegt, die damals einzige Möglichkeit, das Moor heil zu queren. Die Ortschronik gibt an: 14.000 v. Chr.: Ende der Eiszeit; 8.000 v. Chr.: Entstehung des Teufelsmoores; 2000 v. Chr.: der Knüppeldamm wird angelegt; 1720 n. Chr.: der Moorkolonisator Jürgen Christian Findorff wird geboren; 4. Mai 1945: Bürgermeister Garms übergibt Gnarrenburg den Engländern. Gott sei Dank ist kein deutscher Soldat da, das zu verhindern.

Hungrige Reisende, die es um die Mittagszeit nach Gnarrenburg verschlägt, sind verloren. Imbisse und Bistros haben um die Zeit geschlossen. Das Leben in Gnarrenburg tobt zwischen 16 und 20 Uhr. Eindeutiger Mittelpunkt des aus zwei Achsen bestehenden Straßendorfs ist das Cafe & Eis Paradies bei der Fußgängerampel. Hier findet sich auch das Hotel Matthias, ein Sonderpostengeschäft, das Upn Swutsch (“Coole Drinks für heiße Tage“, „Manta-Teller“ für 6,80 Mark, d.i. eine Riesencurrywurst mit Pommes) und die St. Paulus Kirche. Interessant ist der Spruch über dem Kirchportal: „Gloria In Desertis Deo“. Es handelt sich um eine Verballhornung von „Gloria In Excelsis Deo“ (Ehre sei Gott in der Höhe) und heißt übersetzt: Ehre sei Gott in der Wüste/Öde. Landesbischof Hans Lilje interpretierte den Satz in einer Predigt 1959 so: „Ehre sei Gott auch da, wo kein Mensch auf die Idee kommt, daß da etwas zu loben wäre.“ Diesem für ein Gemeinwesen niederschmetternden Verdikt setzten die wackeren Gnarrenburger stets immensen Schaffensdrang entgegen, indem sie zum Beispiel ununterbrochen neue Parkplätze anlegten. Der Erfolg blieb nicht aus: Gnarrenburg ist das Einkaufsparadies geworden zwischen Bremen und Bremerhaven. Der „Wüste“ wurde geradezu beschwörend das „Paradies“ entgegengesetzt, was sich auch in Geschäftsnamen wie „Cafe & Eis Paradies“ und „Getränke Paradies Abholmarkt Brockmann“ niederschlägt.

Man ist geneigt, die Gnarrenburger Welt als heil zu bezeichnen. Hagere junge Mütter scheuen sich nicht, ihre Kleinkinder sichtlich stolz beim Cafe & Eis Paradies vorzuzeigen. Ältere Mütter sind von keinerlei Selbstzweifeln gezeichnet, während sie mit kleinen Spateln das Gras zwischen den Gehwegplatten herauskratzen. Junge Männer sehen hier mit dem vorne kurz, hinten nackenlang geschnittenen Haar, den Ohrringen und Goldkettchen zwar aus wie Drogendealer, Zuhälter oder Lastwagenfahrer, doch es sind einfach nur junge Männer, die über den wirtschaftlichen Aufschwung Gnarrenburgs diskutieren. Dazu trägt das Marktsegment des Manta-Tellers Spoiler-Schnitt, im Nacken tiefergelegt – was sonst. Gnarrenburg, das früher eher kärglich vom „schwarzen Gold“, dem Torf lebte, ist heute für seine weitläufigen Parkplätze ebenso bekannt wie für seine medizinischen Tropfgläser. Nämliche werden, glaubt man den Einheimischen, bis nach Australien exportiert! Und sogar in New York ist Gnarrenburg präsent und ein Begriff: Es existiert dort ein von Auswanderern gegründeter Gnarrenburger Freundschaftsbund, der beim Plattdeutschen Heimatfest in Brooklyn regelmäßig öffentlich in Erscheinung tritt.

Die herausragendste Leistung des Ortes, den man auch für seinen Mischwald, sein Freibad, sein vorgeschichtliches Steingrab, seinen Wohnmobilparkplatz und seinen ergiebigen Schrottplatz loben kann, ist die Zeitung Gnarrenburger Bote. Untertitel: „WIR in Gnarrenburg“, wobei WIR für „Wirtschaftsinteressenring“ steht. Sämtliche Artikel und Fotos wurden bis Nr. 436 (29. Juni 1995) vom „Bayer-Clan“ geliefert. Immer dabei: Bürgermeister Ernst Bayer mit seinen unverwechselbaren Bildern und Texten. So brachte der Gnarrenburger Bote am 29. Juni unter der Überschrift „Gesehen auf dem Bauerhof von Hans Kück in Langenhausen“ ein Foto mit in Strohhaufen tobenden Kindern, darunter die Unterzeile: Ein toller Spaß für Kinder, das Toben in Strohhaufen. Gesehen auf dem Bauerhof von Hans Kück in Langenhausen (Foto und Text: Ernst Bayer). Im Ort sprach oft man scherzhaft vom „Bayernkurier“. Seit dem 29. Juni 1995 allerdings ist ein Herr Armin Lückner der Redakteur, dem von hier aus Glück und Erfolg zu wünschen sind. Den Gnarrenburgern ist zuzutrauen, daß ihnen auch zu seinem Namen ein Wortspiel einfallen wird.

Man darf die Gnarrenburger nämlich nicht unterschätzen. Es gibt zum Beispiel das Geschäft Bücher Tee Geschenke Fröhlich. Dort entdeckt man eine überraschende Häufung von männerfeindlicher Literatur im Schaufenster, wie: „Das fröhliche Buch für Männerhasser“ (Eichborn); ein Karikaturbuch „Der letzte Schrei“ mit einer „männerfressenden Pflanze“ auf dem Titel; ein Verhöhnungsbuch auf Motorradfahrer. Im selben Haus, im Keller, befindet sich ein sog. „Hexenkeller“ (???). Nach außen hin tritt er als eine gemütliche Speisegaststätte in Erscheinung, bietet z.B. als „etwas Deftiges“ Schnitzel Wiener Art für 12,50 Mark. Die Tatsache, daß schräg gegenüber Moden für Männer Böttcher residiert, vermag den irritierenden Eindruck dieser massiv männerfeindlichen Akkumulation keineswegs zu verwischen. Burkhard Straßmann