„Mei Ming“ heißt „ohne Namen“

■ Sterbezimmer für ungewollte Mädchen in der Volksrepublik China

„Waisenhäuser mit zu wenig Personal vernachlässigen weibliche Babys, so daß sie krank werden; dann bringen sie sie in ein Zimmer und lassen sie dort sterben.“ Seit über einem Jahr kursieren anhaltende, aber unbestätigte Gerüchte über die Existenz von Sterbezimmern in Chinas staatlichen Waisenhäusern. Vor einigen Monaten reiste ein britisches Fernsehteam nach China, um die Wahrheit aufzudecken. Indem sie sich als Angestellte eines US-Waisenhauses ausgaben und ihre Kameras in Beuteln und Koffern versteckten, durchquerten sie fünf Provinzen, legten 4.000 Meilen zurück und drehten einen erschreckenden Dokumentarfilm. Die folgenden Äußerungen aus dem Film stammen unter anderem von einem Spezialisten für asiatische Demographie, Pflegern in Waisenhäusern, Journalisten, lokalen Behördenvertretern und Frauen, die gezwungen wurden, ihre „überschüssigen“ ungeborenen Kinder abzutreiben.

„Die Ein-Kind-Politik versäumte es, die traditionelle chinesische Vorliebe für einen Sohn zu berücksichtigen. Söhne tragen die Familienlinie weiter, deshalb ist der Sohn offensichtlich wichtiger als die Tochter. Da jetzt jede Familie nur ein Kind haben darf, wird das Geschlecht für jede Familie zu einer sehr wichtigen Angelegenheit.“ „In diesem Geburtsroulette hat man nur eine einzige Chance auf einen Sohn. Bäuerliche Eltern kamen in eine sehr schwierige Lage. Wenn sie ihr kleines Mädchen leben ließen, hätten sie keine Chance auf einen kleinen Jungen mehr, und deshalb hörte man urplötzlich in ganz China, sogar in den reichen Gebieten, Berichte über Kindesmord an weiblichen Babys; kleine Mädchen werden in einen Eimer mit Wasser geworfen, bevor sie ihren ersten Atemzug tun können.“

„Mindestens 15 Millionen weibliche Babys sind seit Beginn der Ein-Kind-Politik verschwunden, das heißt zwei in jeder Minute. Viele von ihnen wurden abgetrieben, sobald sich durch eine Ultraschalluntersuchung herausstellte, daß es Mädchen waren.“ „Weibliche Babys werden auf dem Land ,Maden im Reis‘ genannt, weil ihre Familien bezahlen müssen, um sie großzuziehen, und sobald sie Teenager sind, heiraten sie und verlassen ihre Familie, um zu ihrem Mann zu ziehen.“ „Wegen der schweren Strafen für Verstöße (gegen die Regierungspolitik) werden den Behörden viele Geburten verschwiegen. Das führt dazu, daß viele neugeborene Babys ausgesetzt werden. Einige von ihnen sterben an Hunger. Einige werden vielleicht von Banden aufgelesen, die sie dann als Bettler auf die Straße schicken. Und manche von ihnen haben Glück und werden in ein Waisenhaus geschickt.“ Regierungsmitteilung an ein Waisenhaus: „13. 2. 95. Baby ausgesetzt. Keine weiteren Informationen, deshalb schicken wir dieses Baby zu Ihnen.“ „Von nun an wird sie nur durch ihren Gepäckanhänger identifiziert. Darauf steht ihr Name, ihr annäherndes Geburtsdatum und der Tag ihrer Einlieferung. Sie soll Bao Ming heißen, wobei Ming Helligkeit bedeutet und Bao der Vorname ist, der allen Babys dieses Monats gegeben wird. Bao Ming ist das zehnte Baby, das diesen Monat ankommt; wenn es ein durchschnittlicher Monat ist, werden noch weitere 25 folgen.“ „Natürlich sind es kleine Mädchen, wenn es nicht behinderte Jungen sind, aber gesunde Jungen werden nie ausgesetzt, niemals.“ „Wir fanden Kleinkinder, die an Bambussitze gebunden waren, mit den Beinen über behelfsmäßige Töpfchen gespreizt ... Sie hatte drei Stück Schnur um den Körper gebunden, über die Brust, über den Bauch und an den Füßen ... Und dann waren da zwei Schichten dickes Material, fast ein Korsett um den Körper, um sie aufrecht zu halten. Und darunter ist es sehr eng, sehr fest, und sie ist drinnen sehr naß. Noch ein kleines Mädchen.“ „Sie gaben ein besonderes Mittel in den Körper, um das Baby zu töten. Und wenn das Baby geboren wird, werfen sie es einfach weg. Eine Frau ist nicht wichtig. Sie ist wie ein Kleid. Wenn du mir heute gefällst, nehme ich dich mit nach Hause. Wenn du mir nicht mehr gefällst, ziehe ich dich aus und werfe dich weg.“ „Ungepflegt und untätig verbringen diese Kinder ihre Tage zusammengebunden auf einer Latrinenbank. Neugeborene wurden zu fünft in eine Krippe gelegt, bei Temperaturen von über 38 Grad – jedes fünfte starb. Es war keine Zeit, die sterbenden Kinder von den anderen zu trennen, das ganze Gebäude ist ihr Sterbezimmer.“ „Es gab einen Raum, wo vor zehn Tagen ein kleines Mädchen zum Sterben abgelegt worden war. Das Personal mochte nicht in das Zimmer gehen und wartete lieber, bis eines der anderen Kinder seinen Tod meldete. Wir fragten nach ihrem Namen und erhielten die Antwort ,Mei Ming‘. Das bedeutet ,ohne Namen‘. In ihrem kurzen Leben war sie nun zum zweiten Mal verlassen worden. Mei Ming gab ihren Kampf ums Leben auf, vier Tage nachdem wir sie gefilmt hatten. Sie starb an Vernachlässigung. Als wir telefonierten, leugnete das Waisenhaus, daß sie jemals existiert hatte.“ „Die schändliche Praxis der Aussetzung weiblicher Kinder ist in einigen entlegenen ländlichen Gegenden noch nicht völlig ausgerottet, aber sie ist selten. Die Fürsorgeeinrichtungen in China bieten Waisen angemessene Möglichkeiten zur Adoption, zur medizinischen Betreuung, Rehabilitation und Ausbildung, bis sie das Erwachsenenalter erreichen, und dann erhalten sie Unterstützung im Arbeitsleben und bei der Heirat. Die Lebensbedingungen der Waisen haben sich ständig verbessert. Die sogenannten Sterbezimmer gibt es in China überhaupt nicht. Unsere Untersuchungen haben erwiesen, daß diese Berichte tückische Verleugnungen aus ganz anderen Motiven sind. Das chinesische Volk kann die verächtlichen Lügen über Chinas Fürsorgearbeit nur mit Entrüstung beantworten.“

Texte: Zusammenfassung einer Erklärung der chinesischen Regierung, Juni 1995; Auszüge aus „Die Sterbezimmer“, ein Programm der Lauderdale Productions für die Serie „Secret Asia“ auf Channel 4. Weitere Informationen: The Dying Rooms Trust, 68 Thames Road, London W4 3 RE UK