Leben nach dem Gesetz der Quote

■ Die Volksrepublik China führt in Tibet strenge Geburtenkontrollen durch

1982 führte China seine Politik der Geburtenkontrolle in Tibet ein, indem man Abtreibungen vorschrieb oder sehr hohe Geldstrafen verhängen ließ, wenn Frauen „ohne Erlaubnis“ schwanger wurden oder mehr Kinder hatten, als es der regionalen Quote entsprach [...] Es wurden verwirrende und unklare Richtlinien erlassen, in denen zwar verbindlich, aber niemals ausdrücklich festgehalten wird, daß eine Geburt ohne Erlaubnis ein strafbares Vergehen ist.

Im Oktober 1994 verabschiedete der Nationale Volkskongreß das strenge „Gesetz für die Gesundheit von Mutter und Kind“, das 1995 in Kraft treten sollte. Dieses Gesetz behält den chinesischen Behörden das Recht vor, Heiraten und Geburten je nach dem geistigen und körperlichen Zustand der Eltern zu untersagen [...] Wer trotzdem heiraten will, muß sich auf lebenslange Empfängnisverhütung oder Ligation einlassen. Betroffen sind auch die Kinder politischer Gefangener in psychiatrischen Krankenhäusern [...] Das Gesetz bestimmt auch, daß Föten mit Erbkrankheiten oder schweren Mißbildungen abgetrieben werden. Wer bereits behinderte Kinder geboren hat, wird medizinisch untersucht, damit bestimmt werden kann, ob eine weitere Empfängniserlaubnis erteilt wird [...] Die Entscheidungen über die Fortpflanzungsmöglichkeiten der Frauen werden von einem Medizinergremium getroffen – ohne jede Beratung oder Absprache mit der Frau und ihrer Familie.

Es gibt Belege, daß die Chinesen manchmal Zwangsmittel einsetzen. Wenn bestimmteQuoten eingehalten werden, erhalten Ärzte und Beamte finanzielle Belohnungen; andernfalls werden sie bestraft. Selbst Frauen, denen ein weiteres Kind genehmigt wurde, werden manchmal mit Tricks zu sogenannten „Geburtenkontrolle- Operationen“ bewogen, damit diese Quoten eingehalten werden. Eine Abtreibung – erzwungen oder freiwillig – ist jedenfalls obligatorisch für Ehepaare mit Erbkrankheiten sowie für unregistrierte Paare oder für Paare ohne Geburtenerlaubnis der chinesischen Behörden. Eine Sterilisation kann ohne Zustimmung durchgeführt werden; das passiert häufig dann, wenn eine Frau zu anderen chirurgischen oder medizinischen Behandlungen ein Krankenhaus aufsucht. Selbst Kindesmord kann unmittelbar nach der Geburt noch stattfinden.

Die chinesischen Behörden unternehmen keinerlei Versuche, tibetanische Frauen über alternative und weniger drastische Methoden der Empfängnisverhütung aufzuklären. Es gibt keine Belege, daß die Chinesen die Geburtenkontrolle mittels anderer als chirurgischer Maßnahmen versucht haben. Abtreibungen sind in Tibet die weitestverbreitete Form der Empfängnisverhütung; sie werden häufig ohne richtige Ausrüstung oder Anästhesie unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt, so daß es zu schweren medizinischen Komplikatonen kommen kann, manchmal mit Todesfolge.

Als ökonomische Strafe wird Frauen häufig die „Option“ eingeräumt, entweder eine hohe Geldstrafe zu bezahlen oder die Schwangerschaft zu beenden. Dabei ist die Wirtschaftslage tibetanischer Familien durch die von den Chinesen bei entsprechenden Verstößen verhängte Geldstrafe stark gefährdet. Die folgenden Strafen verletzen effektiv das Recht tibetanischer Frauen auf Reproduktionsfreiheit: hohe Geldstrafen, gewöhnlich in Höhe von mehr als fünf Jahreseinkommen, Verlust des Arbeitsplatzes, Degradierung oder Entzug von Beförderungschancen, Gehaltskürzungen.

Ein tibetanisches Kind, das entgegen den chinesischen Bestimmungen geboren wird, erhält weder ordentliche Papiere noch das Recht auf Schulbesuch, Landbesitz, Reisen, Teilnahme an organisierter Arbeit oder Lebensmittelkarten. Letztere sind entscheidend für die monatliche Zuteilung von tibetanischen Nahrungsmitteln in Regierungsläden. Die chinesische Politik der Geburtenkontrolle dient nicht nur als Mittel zur Kontrolle der Körper tibetanischer Frauen, sondern ist auch ein Versuch der chinesischen Kolonialpolitik, die Tibetaner in ihrem eigenen Lande zu einer Minderheit zu machen. Auch weiterhin können nur internationale und Menschenrechtsorganisationen gegen Chinas Angriff auf die Tibetaner als besondere Kulturgruppe vorgehen.

Aus: „Bauch in Staatsbesitz – Verletzungen der Reproduktionsrechte tibetanischer Frauen“. Tibetan women's association, Dharamsala, Indien 1995