Signale einer dramatischen Krise bei „Buten & Binnen“

■ Diagnose: „Geyer-Allergie“ / Zuschauer begehren auf / Der „Liebe Zuschauer“ will keiner mehr sein.

Der Moderator war noch ernster als sonst. Trauer, Enttäuschung, Resignation war in seinen Zügen zu lesen. Michael Geyer, der Charles Bronson der Bremer TV-Szene, mußte letzte Woche vor laufenden Kameras in „Buten & Binnen“ in eigener Sache berichten. Ein Zu schauer hatte schriftlich gegen Geyers Anrede „Liebe Zuschauer“ protestiert. Nur die Spitze eines Eisberges? Der Moderator sprach von einer „Geyer-Allergie“ in Bremen. Signale einer Krise.

Andere führende deutsche Fern- sehjournalisten hatten die Zeichen der Zeit eher verstanden. Versace- Anzüge. Sorgsam gestutzte Schnauzbärte. Collins-Krawatten. Das Lächeln weltgewandter, bril- lenschwenkender Männer und ein respektables Handicap beim Golf. Währenddessen war man beim Bremer Fernsehen immer noch der Ansicht, Journalismus habe nur etwas mit guter Recherche, intelligenter Moderation oder sogar Nachwuchsförderung zu tun. Michael Geyer weigerte sich kaltblütig, originelle Kochbücher zu ver fassen, sich mit Brigit Schrowange bei einem Udo-Jürgens-Konzert sehen zu lassen oder in einem Ratespiel gegen Max Schautzer anzu- treten: Eine endlose Kette von Versäumnissen. Als selbst Klaus Bednarz in „Monitor“ vor Monaten zum ersten Mal ein zaghaftes Lä- cheln vor der Kamera gelang, blickte Michael Geyer immer noch grimmig wie ein Kampfhund kurz vor dem Biß in eine deutsche Kinderwade aus dem Bildschirm. Anfangs fröhlich gestimmte lnterviewpartner verließen das „Buten & Binnen“-Studio nach Geyers heimtückisch-liebloser Fragetechnik als gebrochene Menschen. Nüchterne, ernstzunehmende Sachverhalte wurden von Geyer hingegen mit wenigen, boshaften Worten gehörig der Lächerlichkeit preisgegeben.

Längst wurde unter wohlmeinenden örtlichen Kollegen die Frage erörtert, ob Geyer nicht besser gemeine Satiren für ein linkes Kampfblatt schreiben solle, statt Fernsehen zu machen. Denn immer noch verhöhnte er das treue bremische Publikum mit der beißend ironischen Anrede „Liebe Zuschauer“. Ein Affront, der Folgen haben sollte. Der Zuschauerbrief letzte Woche (siehe oben) brachte das Faß zum Überlaufen. Das Bremer Fernsehen steht vor dem Abgrund. Kommerzielle Sender brachten be- liebte Künstler wie Margarethe Schreinemakers, Jörg Wontorra oder Rudi Carell hervor. Andere Funkhäuser förderten Talente wie Ulrich Kienzle, Hilmar Rolff oder Dieter Lesche. Vielfach erfreuen sie mit fundierter liebenswürdiger journalistischer Leistung den Zuschauer. Radio Bremen dagegen leistet sich immer noch einen mürrischen Anchorman und Chefredakteur, bei dessen Anblick Kleinkinder schreiend hinter massive Couchgarnituren flüchten und sich sensible Haustiere in Gummibaumtöpfe eingraben. Und dann noch: „Liebe Zuschauer...“

Große Vorbilder gäbe es selbst in der „Buten&Binnen“-Redaktion genug. Da trägt ein Kollege immerhin schon ein Hemd in kräftigem Lila unter einem braunen Tweed-Jackett. Da sieht man einen gepflegten Aribert-Gala-Bart in Dunkelblond an lustigen Speckwangen. Ein gebräunter Arm, eine modisch-freche Weste: Zeichen für ein zeitgemäß gewandeltes journalistisches Selbstverständnis beim Bremer Fernsehen.

Die von den Betroffenen im Sendegebiet selbst diagnostizierte „Geyer-Allergie“ ist sicher keine hysterische Überreaktion eines von der medialen Reizflut unserer Tage gestreßten Publikums. Sie ist ein Anzeichen dafür, daß es in einem modernen Medienstatt mehr auf kultivierte Umgangsformen ankommt als auf eine verstaubte journalistische Ethik. „Liebe Zuschauer“ sind out, liebe Moderatoren – die sind gefragt.

Lutz Wetzel