Kurort oder Marzahn im Grünen

Neue taz-Serie „Ortswechsel“ (Teil 1): Im Köpenicker Ortsteil Müggelheim kämpfen Bürger gegen planerischen Wildwuchs und Ignoranz der Verwaltung. Statt bürgernaher Stadtplanung droht nun das Chaos, Bürgerbeteiligung ist ein Fremdwort.  ■ Von Uwe Rada

Fünf Jahre nach der Vereinigung beider Stadthälften ist Berlin noch immer eine Stadt der Ungleichzeitigkeit. Orte der rasanten Veränderung befinden sich oft in unmittelbarer Nähe zu Orten, in denen die Zeit scheinbar stillsteht. In der Serie „Ortswechsel“ soll an eher unbekannten Orten diesem Reibungsverhältnis nachgespürt werden, aber auch den Ängsten und Hoffnungen derer, die den Veränderungsdruck und Stillstand aus eigener Erfahrung kennen.

Es gibt schönere Dörfer als Müggelheim. Solche mit Dorfkrug und klassizistischer Stuckfassade an schiefen traufständigen Angerhäuschen. Oder mit überraschenden Seitenwegen und Trampelpfaden, die geradezu zum nächsten See oder zum Waldrand führen. In Müggelheim fehlt beides. Das Dorf wirkt zersiedelt, hier eine Baracke, dort eine Tankstelle, Kratzputz an den Fassaden. Daß Müggelheim dennoch schön ist, davon ist Ulrich Peickert überzeugt. „Es ist eine rauhe Schönheit“, meint der Architekt und Stadtplaner, „eine Schönheit, die man erst entdecken muß.“ Eine Schönheit, die es darüber hinaus zu sichern und städtebaulich weiterzuentwickeln gilt. „Hier in Müggelheim gibt es kaum Einkaufsmöglichkeiten, das ist schlimm“, meint die Friseurin im Salon Renate am Dorfanger. Anstatt die Infrastruktur im Ort auszubauen, droht Müggelheim die Zersiedelung zur ausgedehnten Schlafstadt im Grünen. Ein Konzept sei in Müggelheim nicht zu erkennen. „Wenn das mit dem Bauen in der bisherigen Form weitergeht“, befürchtet sie, „steht es schlimm um Müggelheim.“

An öffentlichen Ärgernissen mangelt es hier tatsächlich nicht. Da sind sechs zweieinhalbgeschossige Wohnblöcke mit Eigentumswohnungen am Geinsheimer Weg inmitten einer von Ein- und Zweifamilienhäusern geprägten Umgebung. Da ist aber auch das Autohaus Diedrich, dem vom Stadtplanungsamt in Köpenick genehmigt wurde, sich dauerhaft in einer Aluminium-Holz-Baracke niederzulassen, obwohl der Abriß der zahllosen baulichen Provisorien aus der DDR-Zeit zu den vorrangigen Forderungen der Müggelheimer Bürger gehört. „Wenn nicht bald rechtskräftigte Beschlüsse gefaßt werden“, schreibt Simone Jacobius, Redakteuerin der Ortszeitung Müggelheimer Bote, „dann droht unserem Kleinod Müggelheim das Ende.“

„Wenn diese Beispiele Schule machen“, ergänzt Stadtplaner Ulrich Peickert, „dann kann man nicht mehr von Stadtplanung reden, sondern nur noch von Wildwuchs.“ An konkreten Vorstellungen mangelt es dem rauschebärtigen Ortsteilaktivisten nicht: „Hier müßte man ein Dorfzentrum entwickeln“, führt er die Besucher durch den Ort, „dort wäre Platz für eine behutsame Verdichtung.“ „Landschaftsgerechter Städtebau“ nennen es der Heimatverein Müggelheim und die ansässige Bürgervertretung. Vor allem die naturräumlichen Komponenten sollen erhalten werden. Darüber hinaus fordern die Müggelheimer aber auch die Ansiedlung von Gewerbebetrieben und die Schaffung regionaler Arbeitsplätze. Bei allen Bauvorhaben soll nach dem Grundsatz verfahren werden, daß bauliche Verdichtung, die Nutzungsänderung fehlgenutzter Bereiche und die Nutzung von Brachland der Erschließung neuen Baulandes vorgezogen werden.

Daß sich Müggelheim vom 3.000-Seelen-Dorf zur Kleinstadt mit über 10.000 oder gar 15.000 Einwohnern entwickeln wird, damit haben sich die meisten Bewohner in den Nachwendejahren abgefunden. Daß sich diese „Explosion“ freilich ohne planerisches Konzept vollzieht und die Ideenlosigkeit der DDR-Kommunalpolitik unter den Bedingungen der Marktwirtschaft forschreibt, damit will man sich aber nicht zufriedengeben.

Eng und schmal schlängelt sich die Große Krampe vom Südwesten durch die Müggelheimer Dorffluren zum Dorfanger. An dieser Stelle stand einmal das Gasthaus „Troppenz“, ein Bier- und Kaffeegarten mit Tradition. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Die baulichen Reste des Gasthauses faulen wie die nahe gelegene „Krampenmühle“ vor sich hin. Der am malerischen Ufer gelegene Tanzsaal ist im vergangenen Jahr abgebrannt. Die Anwohner vermuten Brandstiftung: „In der Nacht hat es geregnet, und Strom gab es dort schon lange nicht mehr“, sagt einer. Noch ist das verfallene Gasthaus der einzige öffentliche Zugang zum gleichnamigen See.

Noch. Geht es nach dem Willen des zuständigen Planungsamts im Bezirk Köpenick, sollen auf dem Gelände, zum Entsetzen der Müggelheimer, Luxuswohnungen gebaut werden. Für den Köpenicker Baustadtrat Werner Gehrmann (CDU) nichts Ehrenrühriges: „Die Forderung der Müggelheimer nach einer Gastronomie ist nicht möglich“, bescheidet er knapp und preußisch. Eine übergeordnete Gastronomie sei nicht geplant, ein Bestandsschutz nicht vorgesehen. Solche Selbstherrlichkeit im Köpenicker Rathaus ärgert die Müggelheimer besonders: „Seitdem das Café Müggelheim geschlossen wurde“, schimpft eine ältere Anwohnerin, „gibt es hier nur noch ein Musikcafé für Jugendliche.“ Daß der Baustadtrat gar nicht erst nach einem Investor für ein Hotel oder ein Restaurant an der Großen Krampe gesucht hat, davon ist Ulrich Peickert ebenso überzeugt wie davon, daß es bei den Baugenehmigungen in Müggelheim nicht immer mit rechten Dingen zugeht. – Planerische Fehlleistungen wie an der Großen Krampe gibt es in Müggelheim zuhauf. Für ein Dorf, dessen Fläche zu einem Drittel unbebaut, im Flächennutzungsplan gleichwohl als Bauland ausgewiesen ist, ist das womöglich der Todesstoß durch planerische Unterlassung. „Massive Fehlentwicklungen“ sind es, die die Müggelheimer Bürger und Initiativen mittlerweile beklagen. In einer Art stadtplanerischer Großen Koalition haben sich der bereits zu DDR-Zeiten aktive Umweltkreis der evangelischen Kirche, die Bürgervertretung Müggelheim, der Heimatverein sowie die Fraktionen der Bündnisgrünen und der PDS zusammengetan, um gegen den Wildwuchs vorzugehen.

„Was hier geschieht, ist eine Saubeutelei!“ schimpft Dr. Horst König, Wortführer des Evangelischen Umweltkreises. Dem Flächennutzungsplan sei von seiten des Bezirks keine konkrete Bereichsentwicklungsplanung gefolgt und auch eine Erhaltungssatzung lasse, obwohl sogar vom Senat empfohlen, im Rathaus zu Köpenick noch immer auf sich warten. Einzig und allein einen Leitlinienbeschluß des Bezirksamts haben die Müggelheimer in Händen. Dort jedoch wurden konkrete Forderungen wie die nach behutsamer Verdichtung des Dorfkerns im Abstimmungsprozeß wieder gestrichen.

Die Folgen des planerischen Brachlands sind unübersehbar. Gleich neben dem Autohaus Diedrich steht eine stillgelegte Zementfabrik, ein flächenfressendes Ungetüm in idyllischer Umgebung. Statt umweltgerechte Arbeitsplätze und bürgernahe Dienstleistungen nach Müggelheim zu holen, will das Bezirksamt Köpenick das Zementwerk erhalten. „In den Bebauungsplänen“, weiß Stadtplaner Ulrich Peickert, „wird manchmal der Erhalt von Betrieben festgeschrieben, die es mittlerweile gar nicht mehr gibt.“

Baustadtrat Gehrmann weist die Kritik der Müggelheimer und ihre Forderung nach Bürgerbeteiligung zurück: „Eine Stadtplanung der runden Tische gibt es bei mir nicht.“ Planung ist für Gehrmann eine „hoheitliche Aufgabe“, Bürgerbeteiligung ein Fremdwort. „Was wir wollen“, orakelt der Bezirksstadtrat, „ist nicht das, was die Müggelheimer wollen, aber das, was die Müggelheimer wollen, ist im Planungsrecht nicht vorgesehen.“

„Seit Jahren versuchen wir mit dem Bezirksamt zusammenzuarbeiten“, klagt Peickert über die Ignoranz des Baustadtrats, „aber ohne Erfolg.“ Jetzt haben es die Müggelheimer satt und haben eine Beschwerde bei Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) gegen Baustadtrat Gehrmann und Stadplanungsamtsleiter Bock eingereicht. Begründung: widerrechtlich erteilte Baugenehmigungen in drei Fällen sowie Täuschung der Öffentlichkeit.

Noch bevor das Ergebnis der Untersuchung vorliegt, geht Gehrmann zur Gegenoffensive über: „Falls sich die Beschuldigungen als gegenstandslos erweisen“, droht er, „gehe ich wegen Verleudmung vor Gericht.“ Gehrmann: „Wie man in den Wald hineinruft, schallt es auch heraus.“ Peickert kontert: „Wir freuen uns auf eine Klage von Herrn Gehrmann.“ Mit der planerischen Untätigkeit der Bezirksverwaltung droht Müggelheim nicht nur ein ausgedehnter Siedlungshaufen, sondern auch die Fortdauer des baulichen Verfalls. Während an der Peripherie des Siedlungsbreis munter drauflosgebaut wird, brechen am Dorfanger Alt-Müggelheim nicht selten die alten Stallungen und Feldscheunen zusammen.

Viele der Anlieger wollen erst Planungssicherheit, bevor sie investieren. In Müggelheim, dem Kolonistendorf Friedrichs des Großen, in dem im Jahre 1747 zwanzig pfälzische Familien angesiedelt wurden, wohnt heute noch manch einer der Pfälzer Nachfahren. Und auch der Grundstückszuschnitt der Erstbebauung mit 22 Meter Breite und 178 Meter Tiefe am rautenförmig angelegten Dorfanger ist noch vorhanden. Hinter der historischen Bebauung mit Wohnhäusern, Remisen und Feldscheunen halten die unbebauten Parzellen heute die dahinter liegenden Einfamilienhäuser auf Abstand. Die tiefen Grundstücke, kamen die Anlieger auf einer Versammlung überein, böten die Möglichkeit zur behutsamen baulichen Verdichtung der Grundstücke zum Dorfzentrum. Erschlossen werden könnte die rückwärtige Bebauung dann über Stichstraßen. Im Rathaus Köpenick herrscht dazu freilich Funkstille.

„Müggelheim könnte der Kurort von Berlin werden“, klagt Peickert, „aber dazu brauchte es eine Verwaltung, die in der Lage ist, die Entwicklungschancen zu erkennen und sie planerisch umzusetzen.“ An anderer Stelle hat man die Besonderheit des Müggelseedörfchens bereits erkannt. Das Bonner Bauministerium hat Müggelheim als einen von 12 Orten in der Bundesrepublik im Rahmen des Programms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ ausgewählt. Im Forschungsfeld „Schadstoffverminderung im Städtebau“ soll hier nach neuen Strategien zur Verminderung des Kohlendioxidausstoßes geforscht werden. Für die Müggelheimer Aktiven ist das ein deutlicher Beleg dafür, daß es andere ernst nehmen mit dem in Müggelheim geforderten ökologischen und landschaftsgerechten Städtebau.

Langfristige Strukturkonzepte waren in Müggelheim freilich schon immer Mangelware. Als gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die landwirtschaftliche Nutzung der Äcker an Bedeutung verlor und sich der Ortsteil zum Berliner Naherholungsgebiet für die „Sommerfrischler“ mauserte, fiel den Verantwortlichen nichts anderes ein, als in der Ortssatzung zu verfügen, daß die Erholungsuchenden abends um acht ihre Lauben zu verlassen hätten. Anders als die mit Bahnanschluß erschlossenen Dörfer Rahnsdorf und Friedrichshagen gab es in Müggelheim nie ein städtisches Siedlungskonzept; der erste Bebauungsplan datiert aus dem Jahre 1932. Und erst 1956 wurde die Müggelheimer Stromversorgung auf 220 Volt umgestellt. Heute sind aus den Datschen Einfamilienhäuser geworden; eine städtebauliche Idee, ein Planungsleitbild gibt es aber immer noch nicht. „Nach der Wende haben viele Bürger die Hoffnung gehabt, daß sich das planerische Chaos im Ort zum Besseren wendet“, meint Ulrich Peickert. Daß die Köpenicker Bezirksverwaltung die Zeichen der Zeit einmal erkennen wird, daran glaubt der Stadtplaner schon lange nicht mehr.

Er will nun den „Königsweg“ der „public-private-partnership“ gehen. Zusammen mit der von ihm gegründeten Entwicklungsgesellschaft Müggelheim 2000 will Peickert, der in manchen Momenten Müggelheim schon einmal nach Brandenburg wünscht, die planerischen Hausaufgaben nun mit den Investoren selbst erledigen. „Die haben daran auch ein Interesse“, weiß Peickert, „schließlich will jeder, der sich eine Wohnung in Müggelheim kauft, auch ein ansehnliches Dorf vor der Haustür haben.“

„Verschandelte Schlafstadt im Grünen oder eine ausgewogene, lebensfähige Ortschaft“, so lautet die Alternative für viele Müggelheimer. Falls sich der Bezirk einem von allen Seiten geforderten Gesamtkonzept weiter verschließe, meint Peickert, drohe Müggelheim nicht nur von der demokratischen Kultur her zu veröden, sondern sich auch städtebaulich zum „Marzahn der oberen Zehntausend“ zu entwickeln.

Am nächsten Donnerstag folgt eine Reportage über die Pfarrstraße: Besetzerkiez im Umbruch