"Blavatzkys Kinder" - Teil 11 (Krimi)

Teil 11

Im Hotel sah sich Soliza um, und es entging ihr nicht die feindselige Aufmerksamkeit, die sie bei Gästen und Personal erregte. Das kannte sie.

„Setz dich bitte“, sagte Robert im Hotelzimmer und nahm sich den zweiten Sessel. Miriam hockte sich aufs Bett.

Soliza erzählte von HÛdÛreni, von ihrem Leben dort, von dem Abend, an dem sie zu spät nach Hause gekommen war und die Häuser gebrannt hatten, und von ihrer Flucht mit Rjako.

Soliza beschrieb, wie sie Ana gefunden und eine Zeitlang in Sicherheit gelebt hatte. Wie ihre Welt wieder zusammengebrochen war, nicht weil die Reiter die Verkaufsstände der Roma überfallen hatten, sondern weil ihr Rjako weggenommen worden war.

„Ich bin wieder schwanger. Wie sollte ich zwei Kinder ernähren? Ich habe nur noch einen Monat bis zur Geburt.“

Sie schwieg erschöpft. Miriam stellte das Essen auf den Tisch, das sie in der Zwischenzeit beim Roomservice bestellt hatte. Sie aßen. Dann schlief Soliza im Sessel ein. Miriam legte ihr die Füße hoch und deckte sie zu.

Es war dunkel geworden. Niemand machte Licht. Eine Straßenlaterne schien in das Hotelzimmer und warf durch die Zweige eines Baumes ein skurriles Muster auf das Bett. Die Straße war menschenleer, und es schien, als würde die Zeit für eine Weile stillstehen.

Soliza wachte auf, schaute sich verwirrt in der fremden Umgebung um, bis sie sich schlaftrunken an ihre beiden neuen Bekannten erinnerte. Sie stand auf, nippte an einem Glas mit Orangensaft.

„Bitte, ich muß jetzt gehen.“

„Wir kommen morgen mittag zum Bahnhof. Warte dort auf uns“, bat Miriam.

„Gut“, antwortete Soliza müde und ohne Hoffnung. Die junge Romafrau wollte allein zum Bahnhof zurückgehen. Es war für sie anstrengend genug mit den beiden Fremden gewesen. Robert und Miriam begleiteten sie bis zum Hotelausgang und verabschiedeten sich von ihr unter den mißtrauischen Blicken eines Hotelangestellten. Sie setzten sich in eine Ecke des Foyers.

„Ich gehe morgen zur Polizei und zur Botschaft“, kündigte Miriam an.

„Wenn die hören, daß eine ,Zigeunerin‘, die im Bahnhof lebt, Probleme hat, geht das denen am Arsch vorbei.“

„Ich könnte dir meinen Reiseführer leihen. Es gibt sicher noch einige Sehenswürdigkeiten, die du ohne Risiko ansehen kannst.“

„Hörst du mir eigentlich zu?“

„Wenn dir nichts Besseres einfällt, wirst du mich wohl zur Polizei begleiten müssen.“

* * *

Der Raum war vollkommen schwarz. Rolläden verschlossen die Fenster, damit kein Lichtstrahl die Angst der Kinder milderte. Trotzdem drang ein heller Faden Mondlicht durch einen Spalt. Zwanzig Betten standen in Reih und Glied, dazwischen Nachttische aus weißlackiertem Metall.

Benjamin war acht Jahre alt; er schwitzte und lag in einer Pfütze. Seit Wochen quälten ihn fürchterliche Alpträume. Sie begannen immer auf dieselbe Weise: Er lief heimlich aus dem Heim und schlich durch das Tor in den nahegelegenen Wald. Die Sonne streichelte sein Gesicht. Es war warm und freundich zwischen den Bäumen, viel wärmer als in dem großen Haus. Er mochte den Geruch der Bäume und lachte, wenn die kleinen Tiere vor ihm wegliefen. Vögel zwitscherten und machten ulkige Geräusche.

An einem Bach fand er Steine und Zweige und baute selbstvergessen einen Damm. Er sah dem Wasser nach, das seinen Lauf veränderte, und achtete nicht auf die Zeit, bis ein kalter Wind aufzog und er zu frieren begann. Schwarze Wolken verschluckten die Sonne. Der Wald wurde ihm mit einemmal unheimlicher als das große Haus.

Immer hörte er an dieser Stelle des Traums ein Kind furchtbar schreien. Ein Mann lachte höhnisch wenige Meter neben ihm. Vor Angst zitternd warf sich Benjamin in einen Busch. Die Dornen zerkratzten ihm Arme und Beine. Das andere Kind schrie wie verrückt. Benjamin biß sich auf die Lippen, um nicht auch zu schreien. Warum half niemand dem Kind? Er wartete. Es raschelte, zwei Männer gingen weg. Er sah ihre Beine und Stiefel durch die Zweige. Als er sich aus seinem Versteck traute, kroch er zu der Stelle, von der die Schreie gekommen waren.

Jede Nacht, in jedem seiner schrecklichen Träume, lag in einer Grube aus Erde und Laub Michael, sein einziger Freund. Die Männer hatten ihn regelrecht geschlachtet. Obwohl sein Körper blutüberströmt war und ihm Arme und Beine fehlten, konnte Michael ihn noch erkennen. Er flüsterte etwas, was Benjamin nicht verstand. Obwohl ihm vor Angst, daß die Männer zurückkommen würden, schlecht war, kroch er auf allen vieren zu Michael und legte das Ohr an seinen Mund.

Fortsetzung folgt