Paris im Schock der Metro-Bombe

Niemand wollte zunächst glauben, daß in einer der größten Metrostationen von Paris tatsächlich eine Bombe explodiert war. Rätselraten über die Täter – und Angst vor neuen Anschlägen.  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Der Herr im grauen Anzug hastet die Treppenstufen zum Petit Pont hinauf. „Da unten ist eine Bombe explodiert“, ruft er den Umstehenden zu, „eine Bombe im Zug!“ Ohne anzuhalten läuft er weiter. Über die Seine-Brücke. Vorbei an Notre-Dame. Bis er nicht mehr zu sehen ist.

„Wir haben den Kopf geschüttelt“, sagt der schlanke Mittvierziger, der die Szene an dem Metroausgang Saint-Michel beobachtet hat. Er hatte einen alten Freund getroffen. Zusammen lehnten sie am Brückengeländer, den Rücken zum Wasser, und plauderten. „Ein Spinner, dachten wir, einer, dem die Hitze zu Kopf gestiegen ist“, erinnert er sich. Wenig später mußte er seinen ersten Eindruck korrigieren: „Plötzlich drang Rauch aus dem Belüftungsschacht der Metro. Es roch nach verbranntem Gummi. Die Polizei fuhr vor.“

Viele Meter tiefer, auf der zweiten unterirdischen Etage der Metro-Kreuzung Saint-Michel, steht Jean an diesem Dienstag nachmittag am Münztelefon. Auf dem Bahnsteig des Schnellzuges RER-B, Richtung Süden, fährt der Zug ein, die Türen öffnen sich. Im selben Moment explodiert etwas im sechsten Waggon. Jean greift sofort zum Hörer und wählt die Notfallnummer 18. „Die haben mir nicht geglaubt“, berichtet er Stunden später, „ich habe zweimal angerufen, und sie haben mir nicht geglaubt.“

Um 17.30 Uhr ist der RER-B, der die nördliche Banlieue von Paris mit der südlichen verbindet, proppenvoll. Es ist Berufsverkehr, das Ende des Arbeitstages. Die Zeit, zu der Hunderttausende von der Arbeit nach Hause fahren. Alle Sitzplätze in dem RER-B sind besetzt. In den Reihen dazwischen ist ein wenig mehr freier Raum als sonst – dafür sorgen die Sommerferien.

Die Bombe explodiert unter einer Sitzbank auf der linken Seite am vorderen Ende des sechsten der neun Waggons. „Daher kommt die große Zahl der abgerissenen unteren Gliedmaßen“, wird Stunden später einer der Notfallärzte der Feuerwehr sagen. Feuer bricht aus, und Qualm hüllt sofort die ganze Station ein. Einzelne Augenzeugen beschreiben weißen Rauch, andere schwarzen.

Thierry wird aus dem Waggon herausgeschleudert. Auf dem Bahnsteig rappelt er sich auf, geht zum Waggon zurück und zieht seine Turnschuhe unter den am Boden liegenden Menschen hervor. „Ich weiß nicht, warum ich diesen Reflex hatte“, sagt er, als er bereits in einem Krankenhausbett liegt. Auf dem Weg ins Freie wird Thierry von Helfern angehalten. „Deine Hose brennt“, sagen sie ihm, bevor sie die Flammen löschen.

Die Menschen laufen, krabbeln und robben aus den geöffneten Türen auf den Bahnsteig. Andere zwängen sich aus den Fenstern, deren Scheiben bei der Explosion geplatzt sind. Ein Feuerwehrmann im Feierabend, der auf den Zug wartete, läuft sofort dem rettenden Ausgang entgegen. Dann hält er inne, erinnert sich seiner Pflicht und kehrt zurück, um Verletzte zu bergen. Später beschreibt er Szenen aus dem brennenden, zerborstenen Zug, aus dem manche Opfer erst nach Stunden geborgen werden können. „Ich sah einen Mann, dessen Bein unterhalb des Knies abgetrennt war. Er versuchte wegzugehen, so als wäre gar nichts passiert.“

Die Schwerstverletzten werden an Ort und Stelle behandelt. Drei Menschen sterben kurz nach dem Attentat auf dem Bahnsteig des RER-B. Polizei und Bahnpolizei sind wenige Momente nach dem Attentat zur Stelle. Die Feuerwehr kommt einige Minuten später. Kurz vor 18 Uhr erklärt die Polizei die höchste Alarmstufe für die ganze Stadt. Alle verfügbaren Wagen und drei Hubschrauber werden zum Ort des Geschehens bestellt. Die roten und weißen Hubschrauber starten und landen auf dem Vorplatz von Notre-Dame.

Vor dem Café „Le Départ Saint-Michel“, an einem der drei Metroausgänge, haben die Helfer ein großes Transparent mit der Aufschrift „Vorgezogener Medizinposten“ aufgehängt. Die Stühle stapeln sich längs der Wände. Auf den runden Bistrotischen stehen Infusionsflaschen. Die Kanülen führen herab zu roten Stoffbahren. In goldfarbenes Metallpapier gehüllt, liegen dort die weniger schwer Verletzten.

Der Kellner des „Départ Saint- Michel“ hat auch am späten Abend noch sein weißes Leinentuch um die Hüften gewickelt. „Eine Frau, Mitte Vierzig, kam ins Lokal. Ihr Gesicht war blutig. Sie trug ein Kleid. Ein junger Mann stützte sie. Er sagte: ,Wir brauchen Hilfe‘“, erzählt der Kellner. Wenig später wird sein Arbeitsplatz in ein Notlazarett verwandelt.

Nach 18 Uhr beginnt sich der nach allen Seiten abgesperrte Platz Saint-Michel mit Politikern zu füllen. Premierminister Alain Juppé kommt, der Bürgermeister von Paris, Jean Tiberi, der Präsident der Republik, Jacques Chirac. Einer nach dem anderen steigen sie die Treppenstufen zu der großen unterirdischen Kreuzung Saint- Michel hinab. Zwei U-Bahn-Linien und zwei Schnellzüge aus allen vier Himmelsrichtungen treffen hier aufeinander. Es ist einer der größten Knotenpunkte des öffentlichen Pariser Nahverkehrs. Juppé verbeugt sich im Andenken an die Toten. Alle sprechen von einer „Katastrophe“.

Am frühen Abend bestätigt Innenminister Jean-Louis Debré den ersten Eindruck der Fahrgäste des RER-B: Es war ein Attentat. „Ein kriminelles Machwerk“, sagt er. Die Bombe war zwei bis drei Kilogramm schwer. Ihre chemische Zusammensetzung ist noch unbekannt. Von den Verantwortlichen des Verbrechens fehlt jede Spur. Nirgends gibt es ein Bekennerschreiben. Am Morgen nach der Tat sagt Premierminister Juppé, die „algerische Hypothese“ sei „möglich“. Die „serbische Hypothese“ nennt er „nicht umöglich“.

Der schlanke Mittvierziger, der den ersten, vom Schock gezeichneten flüchtenden RER-B-Passagier beobachtet hat, steht um 21 Uhr abends immer noch in der Nähe des Petit Pont. Die Brücke ist seit Stunden mit silbrigen Absperrgittern und rotweißem Farbband gesperrt. Er diskutiert mit anderen Anwohnern, die seit Stunden auf den Metroausgang starren. Eine junge Afrikanerin will wissen, ob die Metroschächte nun einsturzgefährdet sind. „Nein“, sagt der Mann, „die sind ja ganz tief unter der Seine gebaut. Und sie sind gut isoliert. Im Krieg haben sie schon als Bombenschutz gedient.“ Sie sprechen leise. Eine gewaltige Stille liegt über dem abgesperrten Teil des Stadtzentrums, unterbrochen nur von startenden und landenen Helikoptern und von den Alarmsirenen der Krankenwagen, die sich in weiter Ferne einen Weg durch den dichten Verkehr bahnen.

Nur die 300 Helfer und ein paar Bildjournalisten dürfen hinter die Abriegelungen. Ein Kabel-TV- Sender hat sein Hauptquartier auf dem Seine-Quai aufgeschlagen. Fernsehen und Radio haben ihre Programme geändert. Ununterbrochen berichten Reporter von den neuesten Ereignissen vor Ort.

Zwei Straßen weiter lassen sich Touristen durch die rue de la Hachette im Zentrum des Quartiers Latin treiben. Sirtaki-Klänge dringen durch die enge Gasse. Es duftet nach Dönerkebab und nach arabischen Bäckereien. Gegenüber dem Café de Cluny sitzt eine schwarzhaarige Frau auf einem weißen Campinghocker. Mit geschlossenen Augen singt sie „Sous le ciel de Paris“. Ihre Zuhörer stehen im Halbrund davor und lauschen dem Gesang der jungen Frau, die das „R“ genauso lang rollt wie die Piaf.

„What has happened here?“ fragt das kanadische Paar an der Absperrung zur rue de la Harpe. Es ist beinahe 22 Uhr. Feuerwehrleute rollen einen schwarzen Schlauch zusammen. Das Wasser, das sie herauspressen, rinnt vor die Touristenfüße. „A bomb“, antwortet ein alter Mann, der seit Stunden mit verschränkten Armen auf der Absperrung lehnt. Dann erklärt er mit einem harten spanischen Akzent: „A bomb. And many people are dead.“ Zur Illustrierung macht er ein Kreuzzeichen mit der rechten Hand.

Ein paar Meter weiter diskutieren Anwohner und Touristen über die Hintergründe des Attentats. „Hat das etwas mit den französischen Atombombentests zu tun?“ fragt ein junger Amerikaner. Die umstehenden Franzosen winken ab. Das halten sie für ausgeschlossen. „Wenn das Serben waren, gibt es Krieg“, sagt eine alte Frau sorgenvoll.

Am morgen danach geht der RER-B wieder in Betrieb. Der zerfetzte Waggon wird von Terrorexperten untersucht. Die Fahrgäste werden einzeln befragt. Nur ein weißes Pulver auf den Bahngleisen der Station Saint-Michel erinnert an das Attentat, bei dem bis gestern sieben Menschen starben.

Der Direktor der Verkehrsbetriebe, Alain Caire, versichert, es habe für das Attentat keinerlei Hinweise gegeben. Keine Drohungen. Nichts. „Der Sommer begann ruhig“, sagt er wörtlich im Fernsehen. Seit gestern ist in Frankreich die Ruhe vorbei. Viele denken an das Jahr 1986, als Paris zuletzt eine Serie von blutigen Attentaten erlebte. Und haben Angst vor weiteren Anschlägen.