Vom Bauen und Versauen

■ Bedrohte Hochhäuser, weißhaarige Entwurfsprofessoren und junge Träume: Das Hamburger Architekturjahrbuch 1995 ist erschienen

In seinem mittlerweile siebten Erscheinungsjahr hat sich das Hamburger Architekturjahrbuch einmal wahrlich eingangs ein Gesamtlob verdient. Denn die Aufgabe, in einer Stadt, deren große Tageszeitungen sich lieber mit Behörden- und Investorenverlautbarungen als mit Architektur- und Stadtplanungskritik beschäftigen, wenigstens einmal jährlich den Diskurs über diese so bedeutenden Themen gebündelt vorzulegen, ist an sich schon ein Verdienst. Doch auch die Art, wie dies geschieht, ist trotz der etwas unglücklichen Konstruktion, daß die Hamburgische Architektenkammer als Herausgeber fungiert, stets kritisch und distanziert sowie meistens recht unparteilich gewesen.

Das liegt zum einen natürlich an der Verpflichtung unabhängiger Autoritäten – wobei man mit Manfred Sack, Gert Kähler und Florian Marten über die Jahre auch Autoren gepflegt hat, die nicht nur klug zu analysieren, sondern ihre Beobachtungen auch in schönes Deutsch zu kleiden wissen. Zum anderen hat aber auch die redaktionelle Mischung aus Einzelwürdigungen, Porträts, stadtgeschichtlichen und stadtsoziologischen Themen sowie Interviews und provokanten Essays dafür gesorgt, daß die Jahrbücher ihren Gebrauchswert behalten, ja zum wichtigsten Nachschlagewerk über die Stadtentwicklung seit 1989 geworden sind.

Gestrüpp aus Fachbegriffen

Auch das Jahrbuch 1995 setzt diese Linien fort. Wie von Beginn an üblich, eröffnen einige Rezensionen von Einzelgebäuden das Periodikum. Wobei – und das ist leider schon immer die Schwäche dieses Teils gewesen – es nicht allen Autoren gelingt, aus dem Gestrüpp aus Fachbegriffen und Fachzeitungsdiskussionen zu einer so plastischen Darstellung zu gelangen, daß der Anspruch des Jahrbuches, auch Nichtarchitekten für die Entwicklung der Stadt zu begeistern, erfüllt werden könnte. Vielleicht ist dies an der Schnittstelle von Fach- und Laienpublikum auch nicht immer möglich. Aber Texte wie der von Manfred Sack über das junge, wichtige und leider völlig unterbeschäftigte Büro Gössler Architekten und ihre holzverkleideten Stall- und Wohngebäude an der Horner Rennbahn beweisen doch, daß auch hier Charme und Bildkraft mehr bewirken als in Fachsimpelei verkeiltes Stehkragengenörgel.

Die Auswahl der dargestellten Gebäude (neun Lang-, zwölf Kurzkritiken) bemüht sich recht erfolgreich um Repräsentanz – bei der kärglichen Ausbeute von Architektur in Hamburg, die man auch ohne Streichhölzer unter den Lidern länger betrachten mag, ist das vielleicht auch nicht besonders schwierig. Nicht unsymptomatisch in diesem Zusammenhang ist auch, daß das vielleicht aufregendste Beispiel dieser Reihe, der Umbau einer Stadtvilla durch das Hamburger Büro Dinse, Feest, Zurl, in Berlin beheimatet ist. Fünf Beispiele mutiger Entwürfe aus jener Generation selbstbewußter „Jung“-Architekten (hier: Bothe, Richter, Teherani; Bernhard und Daniel Gössler; Spengler und Wiescholek; Poitiers + Partner und Carsten Roth), die hoffentlich bald den architektonischen Gebetsrhythmus weißhaariger Entwurfsprofessoren brechen mögen, machen Geschmack auf neue Klasse, wiewohl die meisten von ihnen wohl Träume bleiben werden.

Im sogenannten „Hamburger Feuilleton“, dem Ort für Resümees, Rückblicke und Geschichtliches, nimmt sich Florian Marten die Hamburger Stadtentwicklungspolitik der letzten 25 Jahre in Form eines Märchens zur Brust und findet dabei in der Mehrzahl bittere Wahrheiten: Einige, meist späte gute Absichten, die zu Verbesserungen in den Quartieren geführt haben, stehen im krassen Gegensatz zu einer unstrukturiert vor sich hin wurschtelnden Stadtpolitik, die zusätzlich gelähmt durch Kompetenzinterferenzen und ungebrochene Wirtschaftsfreundlichkeit auf dem Feld einer ökologisch, sozial und architektonisch verträglichen Urbanität viel zuwenig erreicht hat.

Es ist wiederum der Zeit-Autor Manfred Sack, der bei seinem unterhaltsamen Stadtspaziergang durch die Innenstadt überraschende Beobachtungen mit beißender Kritik an Hamburgs Planungsbeamten und Architekten so verbindet, daß der Neugierige etwas lernt und der Fachmann (soweit er nicht angesprochen wurde) schmunzelt. Auch Sacks Resümee Hamburger Stadtentwicklungspolitik ist ein bitteres Verdikt: „In der Innenstadt ist Stadtbau-Politik Stadtverkaufs-Politik.“

Nach dem Schwerpunkt „Hochhäuser in Hamburg“ (Polizeipräsidium – bedroht, Millerntor – gefällt, Spiegel – verworfen) und einer literarischen Spesenabrechnung für eine Reise in Hamburgs Partnerstadt Chicago folgen zwei etwas merkwürdige Absolutions-Beiträge über Architekten unterm Hakenkreuz, die sich mehr um die Würdigung stilistischer Konzepte als um den fatalen Opportunismus von Architekten sorgen, die ebenso gern völkisch wie demokratisch gebaut haben. Insbesondere Dirk Schuberts Text zu den Brüdern Frank, die mit derselben Begeisterung an der Jarrestadt verdient haben, wie sie später Siedlungen für „unseren großen Führer“ entwarfen, verwirrt nicht nur durch die kommentar- und emotionslose Berichterstattung. Zudem verlangt Schubert von heutiger Wohnungsbaupolitik, sie möge von Paul und Hermann Franks zwischen Gartenstadt und Geschoßwohnungsbau frei wechselnden Entwürfen lernen, ohne jemals darzulegen, was eigentlich zu lernen sei.

Anklänge an die Moderne

Aber auch Hartmut Franks Rehabilitationsversuch des regen Entwerfers nationalsozialistischer Monumentalbauten Erich zu Putlitz führt zu einigem Stirnrunzeln. Verlangt Frank doch bei der Betrachtung von zu Putlitz' bedrohlicher Herrschaftsarchitektur nach „historischer Distanz“, ohne zu erklären, warum den Nazis gefügige Volkshallen- und Hakenkreuz-Zeichner lediglich aufgrund gewisser Anklänge an eine moderne Formensprache plötzlich wieder Beachtung verdienen sollen, wenn sie sich bewußt zum symbolischen Größenwahn eines Systems bekannten, das Abermillionen von Menschen in den Tod geschickt hat. Mit Sicherheit gibt es aus dieser Zeit andere Biografien, insbesondere die von den Nazis vertriebener oder ermordeter Architekten, die man an dieser prominenten Stelle einer breiten Öffentlichkeit hätte nahebringen können: etwa den Stadtplaner Hans Blumenfeld, die Architekten Hans Gerson, Ernst Hochfeld oder Felix Ascher, letzterer Architekt der Synagoge Oberstraße, oder auch Gustav Oelsner, den ehemaligen Bausenator von Altona.

Ingeborg Flagges Porträt des Büros Schweger + Partner (Techniker Krankenkasse, Poseidon-Häuser, Kunstmuseum Wolfsburg, Winterhuder Fährhaus u.v.a.m.) würdigt eines der wenigen Hamburger Büros, das frei von Denkverboten und falschen Regionalismen seit vielen Jahren zu stets individuellen (wenn auch nicht durchweg schönen) Lösungen gelangt und damit auch weit über die Stadtgrenzen hinaus Meriten verdient. Manfred Sacks Polemik zu Hamburgs Umgang mit seinen Mäzenen am Beispiel der Greve-Schenkung der Flügelbauten für die Universität setzt schließlich den kernigen Schlußpunkt unter ein Jahrbuch, das trotz einiger Kritik die Reihe der kurzweiligen Standardwerke zu Hamburgs Bauen und Versauen fortsetzt.

Till Briegleb