Die Ratten werden auch in Zukunft fett

Berliner Ökobilanz (fünfte und letzte Folge): 690 Kilogramm Siedlungsabfall produziert jeder Berliner jährlich / Müllmenge soll halbiert werden / Der Senat setzt zur Entsorgung auf die Müllverbrennung  ■ Von Kathi Seefeld

Ein Mann beißt genüßlich in sein Marmeladenbrot. Zu seinen Füßen plätschert die Spree, und hinter ihm steigen weiße Wölkchen aus dicken Schornsteinen in den sommerblauen Himmel. Wie schön.

Indes, die Sache stinkt. Was dort raucht, ist Berlins einzige Müllverbrennungsanlage in Ruhleben, harmlos-neutral Abfallversorgungswerk Nord genannt. In der Anlage werden jährlich 360.000 Tonnen Müll verbrannt, etwa ein Achtel der gesamten Berliner Müllmenge.

Etwa 800 Mal am Tag, also fast alle zwei Minuten, rollt ein orangefarbenes Fahrzeug durch das Tor, hin zu den mehr als 100 Meter langen und über 20 Meter hohen Müllbunkern, einer Tummelwiese für fette Ratten und Tauben.

In Schichten, rund um die Uhr, arbeiten 120 Beschäftigte der Stadtreinigungsbetriebe (BSR) an Berlins sichtbarstem Müllproblem. Das besteht aus 330 Kilogramm Haus- und 17 Kilogramm Sperrmüll, aus 263 Kilogramm Gewerbe- und 29 Kilogramm hausmüllähnlichem Gewerbeabfall, aus 34 Kilo Straßenkehricht und 14 Kilo Müll mit dem Zusatz „Sonder“. Summa summarum: aus etwa 690 Kilogramm Siedlungsabfall, die jeder, der in der Stadt lebt, pro Jahr produziert. Rund 2,4 Millionen Tonnen immerhin, die bei 3,46 Millionen Einwohnern insgesamt anfallen.

„Abfälle müssen da entsorgt werden, wo sie entstehen“, spricht Umweltsenator Volker Hassemer (CDU), wenn er mit Berliner BürgerInnen redet, und zumindest diesbezüglich hat er recht – auch wenn Berlin sich daran nicht hält. Fragwürdig wird die Sache zudem, wenn bei der Klärung des Problems „Wohin künftig mit unseren Siedlungsabfällen?“ erstens nicht berücksichtigt wird, daß es inzwischen ernstzunehmende Pläne für ein gemeinsames Bundesland gibt und daß zweitens die Regierenden der Stadt die Vertreter einer bestimmen Müllbranche offenkundig hofieren.

Schon heute ist es so, daß von den 2,4 Millionen Tonnen Berliner Müll ein großer Teil (1,62 Millionen Tonnen) im Land Brandenburg auf Deponien landet. Sicher nicht aus lauter Nächstenliebe, sondern auch, weil damit eine gute Stange Geld zu verdienen ist, boten die Brandenburger in der Vergangenheit mehrfach an, für neue, dem Stand der Technik entsprechende, gemeinsam zu nutzende Deponien Flächen zur Verfügung zu stellen. „Unbeschadet des vereinbarten Territorialprinzips“ hinsichtlich der Entstehung der Müllberge – so besagte es ein Abfallwirtschaftkonzept, das eine Arbeitsgruppe des Gemeinsamen Regierungsausschusses der Länder im Oktober 1992 vorlegte.

Wernsdorf, Schwanebeck, Schöneicher Plan, Schöneiche, Vorketzin und Deetz wurden zu Orten erklärt, in denen auch in Zukunft Restabfälle Berlins gelagert werden können. Betrieben würden die Deponien dabei von der Märkischen Entsorgungs- und Abfallbetrieb GmbH (MEAB), deren Eigentümer zu gleichen Teilen die Länder Berlin und Brandenburg sind. Unter die Obhut der MEAB fallen auch die Sonderabfalldeponie Röthehof und die Sonderabfallverbrennungsanlage Schöneiche.

Weitere Überlegungen wünschte sich das Brandenburgische Umweltministerium bereits im November 93. Passiert ist seitdem auf Berliner Seite wenig. Eine nun endlich von Berlin in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie soll noch in diesem Jahr Ergebnisse bringen.

Für eine gemeinsame Landesplanung scheint aber der Zug abgefahren zu sein. So äußerte Brandenburgs Umweltminister Matthias Platzeck bereits im Januar in einem Schreiben an seine Kommunen, daß er Berlin seit längerer Zeit dränge, Klarheit über die zu erwartenden Müllmengen zu schaffen.

Da Berlin offensichtlich Abfälle nur noch nach Schöneiche und Ketzin bringen wolle, müsse „die ganze Deponieplanung in Brandenburg abgeändert werden.“ Ohne dies werten zu wollen, habe er den Eindruck gewonnen, so Minister Platzeck, daß Berlin darauf setze, die Entsorgung innerhalb des Stadtgebietes durch vermehrte Verbrennung zu lösen.

Von Müllverbrennung, obschon ausgiebig praktiziert, spricht man in Berlin ungern. Auch einen Mitarbeiter der Pressestelle des Umweltsenats hatte eine diesbezügliche Nachfrage kürzlich sichtlich verwirrt. Neue Müllverbrennungsanlage? Davon wisse er doch gar nichts... Bis es ihm dämmerte. „Das läuft bei uns unter dem Stichwort Thermoselect.“

Tatsache ist, daß die abfallrechtlichen Vorschriften der Bundesrepublik zunehmend die Möglichkeiten zur Ablagerung unbehandelter Siedlungsabfälle einschränken. Sie dürfen nur noch deponiert werden, wenn zum Beispiel der organische Anteil darin bei unter fünf Prozent liegt.

Berlin zieht daraus zwei Konsequenzen. Zum einen sollen Abfälle stärker als bisher vermieden und verwertet werden. Bis zum Jahr 2005 will der Senat die Müllmenge auf die Hälfte reduzieren. Nachholbedarf hat Berlin tatsächlich, wenn man nur einmal den Einsatz von Mehrwegbehältnissen betrachtet.

Hier liegt die Stadt weit unter dem Bundesdurchschnitt. So ergab eine Untersuchung des Bonner Umweltministeriums vom Vorjahr, daß in Berlin nur 38 Prozent Pfandflaschen gekauft werden. 87 Prozent sind es dagegen in Baden- Württemberg oder 82 Prozent im Saarland. Von den 2,4 Millionen Tonnen Müll wird ein Achtel, rund 400.000 Tonnen, recycelt.

Die andere Alternative ist für Volker Hassemer offenbar die erstrebenswertere. So kennt er für die nach Verwertung beziehungsweise Vermeidung verbleibenden 1,2 Millionen Tonnen Siedlungsmüll pro Jahr derzeit nur eine Antwort: Thermoselect.

„Müllverbrennung“ nennen es die Bürger in Neukölln, vor deren Türen in der Gradestraße eine derartige Anlage neu gebaut werden soll. Ebenso die Bürger, die es in Lichtenberg mit dem Bauvorhaben am Blockdammweg betrifft. Und auch in Pankow ist der vom Senat ins Auge gefaßte Standort Lindenhof noch lange nicht vom Tisch.

Auf einer Bürgerversammlung, Auge in Auge mit den Betroffenen, verkniff es sich Senator Hassemer kürzlich, von einer „thermischen Verwertung“ zu sprechen, so wie es das Abfallgesetz des Landes tut. Keine Hemmungen hat hingegen die in Potsdam ansässige Firma Umwelttechnik Engeneering Consult GmbH, die über die Alleinvertriebsrechte der Thermoselect-Technologie in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt verfügt.

UEC scheut sich nicht davor, statt von Müllverbrennung von der „fast vollständigen Verwertung von Restabfall durch thermische Vorbehandlung“ zu reden. Die Müll-Realitäten geben der Werbeargumentation der Thermoselect- Anbieterin zunächst recht. „Trotz aller Vermeidungs- und Verwertungsbemühungen verbleibt eine große Menge nicht verwertbarer Abfälle, die deponiert werden müssen.“

Deponieraum, so die UEC, wird zunehmend knapper. „Zudem werden die Deponien von heute die Altlasten von morgen sein.“ Laut UEC sei Thermoselect das Verfahren zur ökologisch unbedenklichen Entsorgung des Restabfalls überhaupt.

Entwickelt wurde das Verfahren Anfang der neunziger Jahre in Italien. Der Abfall wird in einer Presse verdichtet, in einen Entgasungskanal gepreßt und dort auf etwa 600 Grad Celsius erhitzt. Die dabei entstehenden Materialbrocken werden in einen Hochtemperaturreaktor weitergeleitet, bei etwa 1.600 Grad eingeschmolzen und letztlich zu mineralischen und metallischen Granulaten umgewandelt. Letztere werden der metallverarbeitenden Industrie zur Verfügung gestellt. Das mineralische Granulat wird in der Bauwirtschaft eingesetzt.

Im Reaktoroberteil wird bei Thermoselect anders als bei herkömmlichen Müllverbrennungsanlagen reiner Sauerstoff zur Verbrennung der entstehenden Giftgase zugefügt. Ohne den in der Luft normalerweise enthaltenen Stickstoffballast stehe, so UEC, am Ende des Verfahrens lediglich ein Synthesegas, das im Vergleich zur entstehenden Rauchgasmenge herkömmlicher Müllverbrennungsanlagen nur etwa 15 Prozent ausmache. „Über mehrere Prozeßstufen wird das Gas intensiv gereinigt“, betont ein Sprecher des Unternehmens. Das sind freilich Worte, denen man nicht nur in Neukölln nicht über den Weg traut.

Um Zweifel aus dem Weg zu räumen, geht die Senatsverwaltung neue Wege. „Erstmals wird frühzeitig die Öffentlichkeit am Genehmigungsverfahren beteiligt“, sagt der Geschäftsführer der Mediation GmbH Berlin, Hartmut Gaßner. Das Unternehmen hat während des Planungsverfahrens im Auftrag des Senats das sogenannte Konflikt-Management übernommen.

Der stadtweite Zusammenschluß Berliner Bürgerinitiativen gegen Abfallverbrennung „Mi(e)f“ kritisierte in den vergangenen Wochen mehrfach „das Wecken falscher Hoffnungen“. Die Müllverbrennungslage am Standort Gardestraße sei offensichtlich längst beschlossene Sache, die Mediation GmbH solle die BerlinerInnen lediglich weichklopfen.

So zu tun, als könne, wenn plausible Gründe zur Sprache kämen, über einen anderen Standort nachgedacht werden, sei bloße Taktik. Die Mediation GmbH habe bereits im brandenburgischen Märkisch/ Oderland und in Dresden im Sinne ihrer Auftraggeber erfolgreich gearbeitet.

Neukölln ist, so Günter Haße vom Britzer Umweltforum, schon heute ein hochgradig belasteter Bezirk. Nicht genug, daß man ihn mit noch zwei Autobahnen beglückt und den Britzer Hafen zu einem der größten Binnenhäfen Deutschlands erweitert, nun solle auch noch an einer wichtigen Frischluftschneise für die Berliner Innenstadt eine Müllverbrennungsanlage errichtet werden. „Angrenzend an ein im Flächennutzungsplan ausgewiesenes Vorrangsgebiet für die Luftreinhaltung“, klagt Haße.

Das angeblich umweltverträglichere Thermoselectverfahren ist zudem noch nirgendwo im großtechnischen Maßstab erprobt worden. In der Pilotanlage am Lago Maggiore wurde nur ein Bruchteil der vom Senat avisierten Mengen verarbeitet. In Berlin geht es aber um rund 850.000 Tonnen Siedlungsabfall, der in der Zukunft in bis zu drei neuen Anlagen verbrannt werden soll. Allein 150.000 Tonnen sollen in der Thermoselect-Anlage in der Gradestraße verbrannt werden.

Auf die Ängste der Bürger jedoch reagiert Senator Hassemer mit Totschlagargumenten. Wenn es, was offensichtlich der Fall sei, Bedenken hinsichtlich der neuen Technologie gäbe, müsse darüber geredet werden, ob es nicht besser wäre, eine herkömmliche Rostfeuerungsanlage am Standort Gradestraße zu errichten, droht er auf subtile Weise noch größeres Ungemach an. Erpressung nennt dies Günter Haße. Die Stadt wolle und brauche bei einer besseren Kreislaufwirtschaft keine Müllverbrennung, gleich welchen Verfahrens. „Weder in Neukölln noch anderswo.“

Die durch Mauerzeiten bedingte Anlage in Ruhleben wird derzeit ausgebaut, um künftig 470.000 Tonnen Müll im Jahr dort zu verbrennen. Täglich, so eine Information des Britzer Umweltforums, entweichen dabei 5,8 Millionen Kubikmeter Abgase, darunter sind trotz einer Rauchgasreinigung auch 810 Gramm tödliches Quecksilber.

Müll läßt sich nicht einfach in Luft auflösen. Wohl aber zu Geld machen. Dies sei die einzige plausible Antwort auf die Frage, weshalb sich ein Ballungsgebiet wie Berlin die Bürde eines Experimentierfeldes für Müllverbrennungstechnologien aufladen lasse, sagt Günter Haße.

Den Mann mit seinem Marmeladenbrot stört das indessen alles reichlich wenig. Zu seiner Hütte neben der Müllverbrennungsanlage verirre sich selten jemand, sagt er. „Ich bin obdachlos. Da hat man noch ganz andere Sorgen als die giftige Luft.“