Zwischen den Rillen
: Der geplünderte Fixstern

■ Dehnen, falten, komprimieren: Was John Oswald macht, nennt er selber „Plunderphonics“. Jetzt hat er eine fast zweistündige Version des Grateful-Dead-Kultklassikers „Dark Star“ produziert

Was für den Beethoven-Verehrer die ersten vier Takte der 5. Symphonie sind, ist für den Grateful-Dead-Fan das Baß-Intro von „Dark Star“. Sobald diese vier Töne erklingen, erbebt die jeweilige Arena wie das Westfalenstadion bei einem Tor von Borussia Dortmund, und im Herzen jedes passionierten Deadheads geht die Sonne auf. „,Dark Star‘ definiert die Dead“, sagt der Texter Robert Hunter, der das Stück

zusammen mit dem Gitarristen Jerry Garcia im Sommer der Liebe 1967 schrieb. Mit simpler Struktur und einem geruhsamen Tempo versehen, bot es der Band den idealen Rahmen für improvisatorische Ausflüge, die bis zu einer Stunde dauern konnten, und entwickelte sich zum unumstrittenen Meisterwerk der psychedelischen Musik. Michelangelo Antonioni nahm einen Auszug in seinen Film „Zabriskie Point“ auf, und aus dem Programm der Dead war es sieben Jahre lang nicht wegzudenken.

Um so größer der Schock, als sie es auf einmal nicht mehr spielten. „Wir waren diesbezüglich ausgebrannt“, begründet Jerry Garcia den schnöden Verstoß des Stückes, das so lange den Kristallisationspunkt des musikalischen Schaffens der Gruppe gebildet hatte. Von 1974 bis 1989 tauchte „Dark Star“ fast vollständig unter, seine Auferstehung im Hampton Coliseum am 9. Oktober 1989 war für die anwesenden Deadheads so, als würde bei einer tiefgläubigen Katholikenfamilie plötzlich die Jungfrau Maria zum Kaffee vorbeikommen.

Der Kanadier John Oswald ist beileibe kein Deadhead. Die einzige Grateful-Dead-Platte, die er je besaß, war das Live-Dead-Album von 1969, und sein erstes Konzert besuchte er, als er sich schon bereit erklärt hatte, „Dark Star“ in seiner bewährten Manier zu bearbeiten. Oswalds Spezialität sind „Plunderphonics“, das heißt, er nimmt gängige Musik

und verfremdet sie so radikal, daß etwas herauskommt, was „ziemlich verschieden ist, aber immer noch den Geschmack der originalen Aufnahme hat“ (Oswald). Er dehnt und komprimiert, faltet und erweitert, legt diverse Spuren übereinander oder verändert den Sound, so daß zarte Gitarrentöne plötzlich wie Löwengebrüll klingen können. Dolly Parton hört sich seiner Meinung nach erheblich besser an, wenn man sie mit 45 statt 331/3 Umdrehungen spielt, er zerstückelte erbarmungslos Bing Crosbys „White Christmas“ und brachte auf seiner CD „Plexure“ Versatzstücke von tausend Musikern aus zehn Jahren unter. Als Oswald unter dem Titel „Dab“ seine Version von Michael Jacksons „Bad“ veröffentlichte, war dessen Plattenfirma so erschüttert, daß sie das Produkt verbieten ließ.

Grateful-Dead-Bassist Phil Lesh erfuhr von den Experimenten des Kanadiers und war sofort begeistert. Schließlich hatten sich die Dead bereits bei ihrer zweiten Platte „Anthem of the Sun“ an Soundcollagen versucht, als sie Live-Aufnahmen und Studiotracks munter durcheinandermischten. Zunächst war Oswald der Idee, auf seine Art an diese Tradition anzuknüpfen, herzhaft abgeneigt, dann ließ er sich jedoch überreden, vergrub sich tagelang im Archiv der Band in Marin County und förderte 40 Stunden „Dark Star“ aus 25 Jahren in 102 Versionen zutage. Aus dieser Beute destillierte er sein fast

zweistündiges Werk „Grayfolded“. Der erste Teil „Transitive Axis“ erschien letzten Herbst, die zweite Hälfte „Mirror Ashes“, ist kürzlich fertiggeworden, wird gerade versandt und soll in Kürze in den Handel kommen.

Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten betrachtete Oswald den Sound der Grateful Dead als bestens geeignet für seine Zwecke und verzichtete fast gänzlich darauf, ihn zu verändern. Deshalb klingt „Grayfolded“ längst nicht so verschieden vom Original wie andere Plunderphonics, zumal Oswald die Struktur des Stückes mit den beiden durch lange Improvisationen voneinander separierten Gesangsparts beibehalten hat. Getreu den alten Riten der Gruppe beginnt „Grayfolded“ damit, daß mehr als hundert Bandmitglieder verschiedener Epochen gleichzeitig ihre Instrumente stimmen. Es folgen Teile aus einer Vielzahl von „Dark Stars“, die manchmal nur Zehntelsekunden, manchmal Minuten dauern, schichtweise übereinandergelegt sind, sich unaufhörlich wiederholen oder rückwärts laufen. Dabei wurden oft die Tempi verändert, so daß Passagen, die im Original kaum mehr als eine Minute dauern, auf über zehn Minuten gedehnt sind, oder umgekehrt.

Weil Phil Lesh bei „Transitive Axis“ bemängelt hatte, daß Oswald die Musik zu wenig „gefaltet“ hätte, taucht auf „Mirror Ashes“ – 16.384 Mal gefaltet – eine zweisekündige Version der

fast einstündigen „Transitive Axis“-CD auf: ein kurzes, heftiges „Whoosh“. Die Anfangssilbe der ersten Strophe („Dark“) wird auf über eine Minute gedehnt und bereitet den Auftritt des „Jerry- Garcia-Chores“ vor. Im Stile von Stanislaw Lems Ijon Tichy, der auf der siebten Reise der „Sterntagebücher“ in eine Zeitschleife gerät und ständig sich selbst als Angehörigem verschiedener Generationen begegnet, versuchen zahlreiche jüngere und ältere Garcias vergeblich, einen harmonischen Gesang zustande zu bringen. An anderer Stelle trommeln 64 entfesselte Bill Kreutzmans ein einminütiges rumpelndes Schlagzeug-Solo.

Für „Mirror Ashes“ konnten sich Inhaber der ersten CD wünschen, welches „Dark Star“ sie gern dabeihätten, und eine große Zahl entschied sich für die legendäre „Feeling Groovy Jam“ aus dem Fillmore East vom 13. Februar 1970, so genannt, weil Anklänge an Simon and Garfunkels „59th Street Bridge Song“ vorkommen. Brav hat Oswald die 14minütige Improvisation als „73rd Star Bridge Sonata“ in voller Länge übernommen, sie allerdings mit ihren eigenen Bestandteilen angereichert. Nach dem zweiten Gesangsteil, der überwiegend aus einem Garcia- Kanon der Worte „Dark“ und „Mirror“ besteht, widmet er sich den für die Band typischen fließenden Übergängen zu anderen Stücken. In schneller Folge jagen sich Motive aus Songs wie „Wharf

Rat“, „Morning Dew“, „Stella Blue“, „The Other One“ etc., bevor das seltsame Opus mit einem Feedback-Diminuendo ausklingt.

Schon nach dem Erscheinen des ersten Teils erhob sich natürlich die Frage, ob „Grayfolded“ nun eine Grateful-Dead-Platte ist oder nicht. „Keinesfalls“, sagte Phil Lesh, „es ist eine John-Oswald-Platte“. Der wiederum ist sich nicht sicher: „Es gibt eine Menge anderer Meinungen.“ Die von Deadheads etwa, welche sich – im Gegensatz zu den Plunderheads, denen „Grayfolded“ zu wenig radikal ist – entzückt zeigen. Dies, so verkünden sie zahlreich via Internet, sei die „Dark Star“-Version, von der man immer gehofft habe, daß die Grateful Dead sie einmal auf der Bühne spielen würden. Matti Lieske

John Oswald und Grateful Dead: „Grayfolded“; Plunderphonics; zu beziehen über: Swell/Artifact, Toronto, Canada M5T 1 R 5, Tel.: (416) 531-3333; Fax: (416) 530-0877