So silbern wie der Sommer

■ Von Mondfahrten, Straßenpfützen und modernen Nomaden. Eine Hymne in Silber

1995: Silbern ist der Sommer! Silbern sind die Schuhe, silbern die Shirts, und sexy. Silbern rollte die Love Parade über den Ku'damm, silbern perlte der Schweiß an unzählbar vielen ravetrainierten Körpern. Silbern flirrte das Licht. Und die Sonne, sie lachte. Gnadenlos, hell und silbern. Selbst ein so öder und unscheinbarer Kasten wie der Reichstag hüllte sich vergnügt in Silber und zeigte sich so schön und prächtig wie nie zuvor und wahrscheinlich in alle Zukunft nicht wieder. Silbern ist der Sommer zu Zeiten Christos – und ich, ich habe es längst gewußt: Silber, das ist's!

„Goldlöckchen“ – brrrr! – nannte mich meine allererste Jugendliebe. Nach zwei Wochen erwachte ich aus der Verblendung, legte meine Locken beim Friseur ab und die Goldringlein in die Schmuckschatulle. Dort liegen sie, gebettet auf einer güldnen Locke, noch heute. Gold trage ich nur in Momenten der Verblendung und meiner Freundin Sybille zuliebe, die mir einst goldene Ohrringe schenkte.

Mein Schmuck ist silbern – und mein Lebensgefühl auch! „Silber“, meint die Farb- und Imageberaterin Gitta Schalthof, „paßt zu kühlen Typen“, also zu den Winter- und Sommertypen, die kräftige Farben vertragen. Diese machen mich zwar im Nu zur Leiche – aber bei Silber bleibe ich trotzdem. Die ganzheitliche Farbberatung gibt mir sogar unerwartete Argumentationshilfe (obwohl mir dergleichen esoterische Erklärungsmuster eher Schauer über den Rücken jagen): Silber, so referiert Schalthof, ist die Klarheit. Silber erhellt, macht frei, weit und leicht. Genau! Richtig, das! Fast nämlich wäre der Reichstag davongeschwebt, auf meinen Fotos kann ich es noch deutlich sehen. Die Love&Rave- Generation war sowieso kurz vor dem Abheben. Und wenn ich mit meinem silbernen Mantel durch die Straßen düse – uuiih uii –, das ist ein Gefühl vom Fliegen – unbeschreiblich. Keiner merkt's, doch ich befinde mich voll auf Käpt'n Spook-Petras irrer Mondfahrt

Silbern britzelt mein Science-fiction, meine Utopie von Friede, Freude, Eierkuchen ist in spaciges Silber getaucht. Silber ist lustig, und mein Herz im Silbermantel ist leicht, so leicht! Es ist so weit, wie das Meer silbern blitzt, Möwen flirren, die tanzenden Delphine glänzen und Sydneys Oper schimmert (Rheingold hin oder her!). Silber, das ist die Farbe des Morgentaus, der Reise, der Bewegung, der Veränderung. Silber-Menschen haben keine Zeit, satt und behäbig zu werden, haben keinen Sinn für Gold und Reichtümer. Silber- Menschen sind die Nomaden der Moderne; für ganz besondere Silber-Menschen ist ein Tuareg- Schmuckstück (mit minimalem Silberanteil) das größte Glück. Rast- und ruhelos kreiseln sie durch die Welt, manchmal, wenn sie innehalten, ertrinken ihre Blicke in ewig silberrauschender Meeresgischt. In Notfällen begnügen sich Silber- Menschen auch mit klitzekleinen Straßenpfützen: Silbern ist die Sehnsucht. Silbern der Rausch von Freiheit und Geschwindigkeit.

Weil das so ist, habe ich mir unlängst eine goldfarbene Uhr gekauft, da angesichts einer silbernen Uhr die Gefahr bestünde, daß sich mein Herz in rasender Geschwindigkeit überschlagen und ich abheben würde. So aber bleiben mir immerhin ein paar geruhsame Momente – und silbern perlt der Sekt im Takt dazu! Gegen das Chaos danach genügt (die ganzheitliche Farbberatung sagt's) ein Blick auf meinen Silbermantel, und schon seh' ich wieder klar. Petra Brändle