"Ohne Opfer erreicht man nichts"

■ Die am Donnerstag gestorbene Kurdin Gülnaz Baghistani wird zur Märtyrerin / Die Stimmung im deutsch-kurdischen Kulturverein "Navca-Kurd" hat sich beruhigt / Ein Ende des Hungerstreiks ist nicht in Sicht

Über den Hof hallt in türkischer Sprache der Ruf „Märtyrer sterben nicht“. Frauen stoßen spitze Klageschreie aus. In einer Ecke stapeln sich Matratzen und Decken. In einem großen Kühlschrank stehen jede Menge Flaschen mit Mineralwasser bereit. Daneben stehen mehrere Kochplatten, auf denen Tee gekocht wird. Der Nachschub an Kamillen- und Pfefferminzteepackungen wird aus einem Raum in der ersten Etage geholt, in dem eine große Kurdistankarte mit dem Spruch „Schweigen ist ein Beweis für ein stillschweigendes Einverständnis“ hängt.

Die über dreihundert KurdInnen, die sich derzeit im deutsch- kurdischen Kulturverein „Navca- Kurd“ in der Zossener Straße in Kreuzberg aufhalten, gedenken seit gestern der am Donnerstag gestorbenen Gülnaz Baghistani, deren Leichnam Donnerstag nacht in ein Beerdigungsinstitut gebracht wurde. Gestern nach Redaktionsschluß sollte auf dem Marheineckeplatz aus „Wut und Trauer“ über ihren Tod eine Demonstration stattfinden.

Nachdem die Klagerufe verhallt sind, ist es auf dem Hof und im Haus wieder ruhig. Viele der Versammelten schweigen. Mit dem Hungerstreik, so sagen sie, soll das Schweigen der Weltöffentlichkeit gebrochen werden. Solange Forderungen wie die Anerkennung aller Gefangenen in türkischen Gefängnissen als Kriegsgefangene und die Aufhebung des PKK-Verbots nicht erfüllt sind, wollen sie weiterhungern.

Wer spricht, tut das mit gedämpfter Stimme. In dem Raum in der dritten Etage, wo bis Donnerstag nacht der Leichnam von Gülnaz Baghistani aufgebahrt lag, sitzen und liegen vorwiegend Frauen. Die Matratze, auf der die 41jährige aus Osnabrück lag, ist mit einem Tuch in den kurdischen Nationalfarben, einem weißen Schal, einer Haarspange, Blumen und mehreren Fotos der fünffachen Mutter geschmückt. Eine etwa 50jährige Frau, die auf einem Stapel Matratzen liegt, hat sich wie alle anderen ein Bild der Toten angeheftet. Mit schwacher Stimme erzählt sie, warum sie jetzt erst recht weiterhungert: „Wenn unsere Schwester tot ist, können wir auch sterben.“

„Die Menschen sind jetzt noch bewußter“, sagt Orhan Özcan, der für die Pressearbeit zuständig ist. Auch für ihn ist die Tote zur „Märtyrerin“ geworden. „Ohne Opfer erreicht man nichts“, fügt er hinzu. Nachdem der Leichnam von Gülnaz Baghistani fortgebracht wurde, habe sich die Stimmung „etwas beruhigt“. Auch der Ehemann der Verstorbenen, Turgay Baghistani, der von den Hungerstreikenden mit dem Ruf „Märtyrer sind unsterblich“ stürmisch empfangen worden war, hatte vor der aufgebahrten Leiche seiner Frau gesagt, daß sie für die Freiheit des kurdischen Volkes gestorben sei. Auch er ist für eine Fortsetzung der Aktion.

Auch für den Soziologen Hussein Kartal vom „Kurdischen Institut für Wissenschaft und Forschung e. V.“, das im April 1994 gegründet wurde und seine Räume im gleichen Haus wie „Navca- Kurd“ hat, ist die Verstorbene eine „Märtyrerin“. „Da muß man mit mehr Aktionen rechnen“, deutet Kartal eventuelle Reaktionen auf das erste Opfer des Hungerstreiks an. Das Institut versuche, auf „akademischer Basis“ zu verstehen, „worum es geht“. Kartal ist überzeugt, daß sich die deutsche Regierung, gäbe es die Kurden nicht, eine andere Gruppe suchen würde, um ihre „politische Macht zu demonstrieren“. Hausdurchsuchungen und das PKK-Verbot seien ein Zeichen dafür, daß sich Deutschland „auf Härte“ vorbereite. Deshalb habe der Hungerstreik, der außer den Betroffenen niemandem schade, eine „sehr große Bedeutung“. Barbara Bollwahn

Siehe auch Bericht Seite 1