Eine Stadt macht ihren Sender

Fünf Tage Bürgerfunk während des traditionellen Darmstädter Heinerfestes. Ein Radiotagebuch  ■ von Martin Zint

18.2.94 Norbert ruft an. „Das Hessische Privatfunkgesetz soll novelliert werden. Dann gibt es Lizenzen für nichtkommerziellen Lokalfunk. Wir wollen eine Radio- Ini gründen.“ Freies Radio in meiner Stadt! Natürlich bin ich dabei. Alles, was ich schon immer über den Äther blasen wollte, mich aber nie getraut habe. „Wo trefft ihr euch?“ „Beim Hausfrauenbund!“ „Beim Haaaausfrauenbund???“

23.2.94 Gut zwanzig Leute sit- zen um den ovalen Tisch des Hausfrauenbundes. APO-Omas, Managertypen, StudentInnen und gewöhnliche Angestellte, mehr Frauen als Männer. Alle wild entschlossen, Radio zu machen. Der erste Schritt dazu: einen Verein gründen. Auch das noch. Also brauchen wir eine Satzung. Mit ordentlichen Zielen – wenn schon, denn schon. Emanzipiert wollen wir sein und keinesfalls rassistisch, umweltfreundlich, nicht sexistisch, völkerverständigend. Und wie halten wir Faschisten vom Mikrofon fern?

6.10.94 Der hessische Landtag beschließt das neue Privatfunkgesetz. Rot-grünes Licht für nichtkommerziellen Lokalfunk. Bürgerfunk! Freier Zugang zum Radio für alle, nicht nur für Bertelsmann & Co! Wir können es kaum fassen.

16.10.94 Die Lokalzeitung nimmt Notiz und schreibt über uns. Unterwegs zur Mitgliederversammlung beschließen wir, diesen ersten publizistischen Erfolg noch am selben Abend in unserer Stammkneipe zu begießen. Etwa zwanzig neue Interessenten und Interessentinnen stehen indessen vor den verschlossenen Türen des Hausfrauenbundes und frieren. Einige nehmen, vom Regen durchnäßt, Abschied vom Gedanken an ihr eigenes Radio. Der Rest entdeckt unser nahe gelegenes Stammlokal.

16.11.94 Der Paragraph 10 des neuen Privatfunkgesetzes erlaubt für Sendungen im zeitlichen Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen ein vereinfachtes Zulassungsverfahren. Uns fällt sofort das Heinerfest ein, das Fest der Darmstädter Ende Juni. Für fünf Tage wird die gesamte Innenstadt zum Rummelplatz, ein Radio fehlt da gerade noch.

14.2.95 Der Werkhof, ein zentral gelegenes selbstverwaltetes Ausbildungsprojekt, hat gerade Ausbildungspause. Wir tauschen das staubgesaugte Ambiente des Hausfrauenbundes gegen das alternative Flair eines 68er Biotops.

19.4.95 Der Festausschuß fin- det unsere Idee gut, wir haben eine Lizenz für Veranstaltungsfunk beantragt. Bleibt noch die Frage nach dem Geld. Die Telekom verlangt 5.600 Mark für fünf Tage Sendeleistung. Die Gema ist da sehr viel bescheidener. Trotzdem, woher 10.000 Mark nehmen?

29.5.95 Die Telekom hat sie gefunden, die freie Frequenz für Darmstadts freies Radio: UKW 103,4 MHz.

2.6.95 Die Versammlung der Landesanstalt für privaten Rundfunk (LPR) genehmigt unseren Antrag: fünf Tage Veranstaltungsfunk zum Darmstädter Heinerfest.

10.6.95 Heute war die Programmkonferenz von „Radar“, der „Radioinitiative für Darmstadt“. 70 Leute sind erschienen. Das treibt einem ja die Tränen in die Augen. Soviel Engagement habe ich das letzte Mal zu Zeiten der Startbahn West erlebt. Nach drei Stunden steht ein proppenvolles Programm. Wer immer etwas zu sagen hat, wird es sagen.

29.6.95 12.00 Uhr: Wir sind auf Sendung! Weh dem, der verkabelt ist, denn „Radar“ ist nur über Antenne zu empfangen. In den Kellern werden alte Radios ausgekramt. Noch herrscht Nervosität an den Reglern, unsere Not-CD, Radio Gaga, die Pannen übertönen soll, wird zum meistgespielten Titel. Bis zum Midnight Special über den norwegischen Jazzer Jan Gabarek hatten sich trotzdem sechs Kulturprojekte vorgestellt, von der Marionettenbühne bis zum Klangcontainer. Die „Initiative Ehrenamt“ erklärt, warum sie in ihrer Freizeit die Beuys-Ausstellung im Landesmuseum bewacht. Etwa 20 Schülerinnen und Schüler haben Freizeittips gegeben, über Liebe und Eifersucht diskutiert und ihre Lieblingsmusik gespielt. Apropos Musik: So etwas Buntes hat die Welt noch nicht gehört, auf Techno folgt Mozart, auf Dancefloor Deutschrock. Alle lüften ihre privaten Plattensammlungen. Hoffentlich fallen niemandem die Ohren ab. Rock-Funk, die Frauenredaktion, hat in Darmstadt nach „Räumen für Frauen“ gesucht und über Frauen in Naturwissenschaft und Technik an der TH informiert. Die „Stimme der Völker“ hat Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung angeprangert, der längste Radiobericht aller Zeiten zu einer Stadtverordnetenversammlung (45 Minuten) bringt begeisterte HörerInnenreaktionen, alte Darmstädterinnen erzählen bewegt über das 1. Heinerfest im Jahr 1951, rasende ReporterInnen fanden raus, wo es 1995 das billigste Bier und die saftigsten Rippchen gibt, und enthüllen den ersten Skandal: Die Neueinführung von Maßkrügen bringt einen erheblichen Mengenrabatt. Das Saufen wird um so billiger, je mehr Mann trinkt. Und ich sitze da und mache Radio.

30.6.95 Vor drei Tagen sind in Darmstadt zahlreiche Wohnungen von kurdischen Flüchtlingen und deren Unterstützern durchsucht worden. Heute hat sich der Redakteur der Lokalzeitung vom Polizeipräsidenten eine Rechtfertigung für diese Durchsuchungen in den Block diktieren lassen. Toll, daß ich am Nachmittag dem Darmstädter Solidaritätskomitee Kurdistan für 45 Minuten das Mikrofon aufmachen kann. Sie berichten über ihre Arbeit. Auf diese Weise erfahren die Darmstädter auch erstmals aus einem lokalen Medium etwas über die letzte Reise dieser Gruppe nach Kurdistan, die im April in Diyarbakir in Polizeihaft endete (auch die taz berichtete darüber, am 20. 4).

2.7.95 Eine Weile hat es gedauert, aber jetzt beginnen die ZuhörerInnen sich zu regen. Neben einzelnen Beschimpfungen bekommen wir am Telefon eine Menge netter Dinge gesagt. Eine Frau, die uns per Zufall im Äther gefunden hat, kriegt seitdem kein Ohr mehr vom Radio. Sie habe schon fast alle Socken gestopft und Hemden gebügelt, sagt sie – was dann? Und es regnet Faxe. Lokales Bürgerradio hat bei einigen ganz klar suchterregende Wirkung. FahrradfahrerInnen mit Radio am Ohr werden gesichtet. Wir gehen davon aus, sie haben auf UKW 103,4 eingestellt.

3.7.95 Um 24.00 Uhr ist alles vorbei. Viele HörerInnen sind gekommen, um mit uns Abschied zu feiern. Mit einem Countdown über den Äther beerdigen wir das Heinerfestradio nach 90 Programmstunden. Hartnäckige Atheisten reden tief bewegt von ihrem Glauben an die baldige Wiederauferstehung von „Radar“. Weit über einhundert Aktive haben mitgemacht. Und ein erster Kassensturz zeigt: Die DarmstädterInnen haben was für ihr Radio übrig: Über 5.000 Mark wurden in 14 Tagen gespendet!

12.7.95 Auswertung. Trotz ausgedehnter Einzelkritik, die Stimmung ist großartig. Wann geht's weiter? Wenn die Spenden fließen und Mitglieder strömen, dann gibt es Ende des Jahres dauerhaft ein nichtkommerzielles Lokalradio in Darmstadt. 6 bis 12 Stunden Programm täglich, gestaltet von den neun existierenden Redaktionsgruppen, trauen wir uns zu.

28.7.95 Die Lokalzeitung berichtet, daß die Stadtkämmerin einen Vorschlag der örtlichen SPD aufgreift und nach städtischen Räumen für uns sucht. Jetzt sind wir ein Politikum.