Ke na ta katostissi!

Eine kretische Platane wird 70: Mikis Theodorakis, dem Sänger, Komponisten, Visionär und Realpolitiker zum Geburtstag  ■ Von Kostas Papanastasiou

Ich erinnere mich, wie ich Theodorakis vor zehn Jahren in Berlin traf. Er sagte mir: „Ich muß Ende Juli nach Schweden. Die Schweden laden mich zu den Feierlichkeiten meines 60. Geburtstags ein.“ Er lächelte und setzte fort: „Weißt du, ich würde lieber zwei mal 30 feiern! 30 Jahre alt? Schön, nicht wahr?“ Dann versuchte er, die Zeit um 1955 noch einmal wachzurufen, als er 30 war. Leben in Paris, Musik schon damals, die Anfänge eines langen Kampfes ...

Heute, zehn Jahre später, würde er wohl nicht auf die Idee kommen, den 70. Geburtstag auf 2 mal 35 zu feiern. Die letzten zehn Jahre waren auch für Theodorakis eine Zeit voller Resignation und Enttäuschungen. War aber nicht sein ganzes Leben voller Resignation und Enttäuschungen?

Gefängnisse, Verbannung, Folter, Verfolgung und Demütigungen – was werden eines Tages die griechischen Geschichtsschreiber über diesen so umstrittenen Mann schreiben? Werden sie ihm einen Platz neben den Göttern des Olymp geben? Oder werden sie ihm den Lorbeer der Musen verweigern?

Es war im August 1964, als ich Theodorakis das erste Mal in Athen begegnete. Im Fußballstadion in Kokinia gab er ein Solidaritätskonzert für streikende Holzarbeiter. Ich stand mit der Frau meines ältesten Bruders und meiner Frau vor dem Eingang des Stadions. Geld für den Eintritt hatten wir nicht. Ich war Student und kam sozusagen als Tourist aus Deutschland.

Wir wurden mit einem Mal von Männern begrüßt und durch die wartende Menge geschleust und ins Stadion gebracht. Das Stadion war überfüllt. Man hielt mich für einen Kampfgefährten Theodorakis‘. Als die Sänger seine Lieder sangen, hatte man das Gefühl, der Kampf wäre schon gewonnen. Wir saßen in den ersten Reihen mit seinen Freunden und Genossen. So lernten wir uns kennen. Es war der Anfang unserer Freundschaft.

Die Texte von Jannis Ritsos, die Stimme von Grigoris Bithikotsis und Theodorakis' dorische Gestalt auf der Bühne versprachen der Menge die Befreiung. Die Menschen tobten und weinten.

Diese Gabe von Theodorakis, das Publikum mit politischen Liedern mitzureißen und zu begeistern, war auch der Grund dafür, daß ein Jahr später seine Musik aus dem Programm des staatlichen Rundfunks gestrichen wurde. Das hinderte Theodorakis aber nicht daran, weiterhin politische Lieder zu komponieren – die auch überall in Griechenland gesungen wurden.

1967, im April, schlug die Militärdiktatur in Griechenland zu. Theodorakis ging in den Untergrund. Seine Musik zu hören und zu singen wurde bei hohen Strafen verboten. Er selbst wurde später festgenommen und inhaftiert. Wir trafen uns wieder Anfang der siebziger Jahre in Deutschland, als er aus dem Gefängnis entlassen worden war.

In der Patriotischen Antidiktatorischen Front (P.A.M.) haben wir lange zusammengearbeitet. Parallel zur politischen Arbeit gab Theodorakis im europäischen Raum unzählige Konzerte. Auch hier hatte seine Musik die gleiche Wirkung auf die Griechen. Selbst Königin Friederike, gewiß keine Sozialistin, sagte im europäischen Exil in einem Interview, daß seine Musik Trost und Heimat und Hoffnung bedeute.

Was aber machte diesen für Griechenland verhältnismäßig „neuen“ Komponisten so faszinierend? Was sprach auch weite Teile der außergriechischen europäischen Linken an? Darüber könnte man sicher eine Doktorarbeit schreiben.

Die Zeit, in der Theodorakis als Liedkomponist auftauchte, war politisch sehr angespannt. Repressionen, Wahlfälschungen, Polizeiterror und ökonomische Depression. Das griechische Lied war während dieser Periode musikalisch ziemlich überaltert, die Texte sehr flach und ausgelaugt. Manos Hatzidakis sah sich selbst als Vorreiter einer musikalischen Renaissance, doch seine Texte waren mehr oder weniger romantisch und intellektuell.

Theodorakis dagegen versuchte die Revolution. Er war der erste, der Gedichte vertonte. Nicht einzelne, in sich abgeschlossene, sondern poetische Erzählungen. „Epitaphios“ (Epitaph), mit Texten von Jannis Ritsos, einem der bedeutendsten Dichter Griechenlands, war „seine“ erste LP. Ein langes Poem, der Schrei einer Mutter, deren Sohn bei einer Demonstration 1936 in Thessaloniki umgebracht wurde. Dann wieder die Texte von Ritsos' „Romiossini“ (Griechentum), einem Poem über den griechischen Widerstand gegen die Fremdherrschaft. Es folgten Vertonungen von Kampanellis Gatsos sowie den Nobelpreisträgern Giorgos Seferis und Odisseas Elitis.

Musikalisch vereint Theodorakis die griechische Tradition mit dem byzantinischen Erbe und einigen Klassikern des Rembetiko- Liedes. Zusammen mit Hatzidakis machte er die Busuki, heute das Nationalinstrument der Griechen, damals aber als Instrument der Haschischraucher und Ganoven verrufen, wieder salonfähig. Die Kompositionen „Alexis Sorbas“ und „Die Nachbarschaft der Engel“, um nur zwei davon zu erwähnen, rehabilitieren dieses Instrument für immer.

Meiner Meinung nach ist dies aber nicht das größte Verdienst dieses Mannes. In einer Zeit, in der der Antikommunismus in Griechenland das Land stark knebelte, obwohl die bedeutendsten Dichter links waren – mit der Folge, daß sie weitestgehend unbekannt waren –, brachte Theodorakis mit seinen Liedern ihre Gedichte bis zur kleinsten Insel der Ägäis. Diese für Hellas enorme kulturelle Leistung, bin ich sicher, wird kein Historiker zu verschweigen wagen.

Viele jüngere Musiker und Komponisten wurden indirekt Schüler von Theodorakis. Sie suchten das sogenannte Qualitätslied und benutzten Gedichte als Texte für ihre Kompositionen. Zahlreiche Dichter schrieben jetzt in Zusammenarbeit mit den Musikern deren Liedtexte. Viele vertonten schon übersetzte Gedichte von Garcia Lorca oder von Nazim Hikmet, dem türkischen Dichter.

Athen ist voll von großen und kleinen Musiklokalen („Boit's“), in denen diese neue Musik präsentiert wird. Die Lokale sind immer überfüllt mit überwiegend jungen Menschen. Die musikalische „Neue Welle“, „Neo Kyma“, ist geboren. Die Renaissance des griechischen Liedes, eine Vision von Mikis Theodorakis, wurde auf eine Weise wahr, von der man heute noch schwärmt.

Später, Anfang der siebziger Jahre, trägt Theodorakis mit seiner Musik diese Poesie, übersetzt in mehrere Sprachen, weit über die griechischen Grenzen hinaus und macht Millionen mit ihr vertraut. Auch „Canto General“, den „Großen Gesang“ von Pablo Neruda, hörten begeistert Abertausende in Südamerikas Stadien. Man kann fast sagen: Theodorakis' Musik für dieses Poem wurde zur Hymne der Befreiung in Chile. Dieser internationale Erfolg strahlte zurück auf Griechenland und öffnete ein zweites Mal neue Horizonte für die griechische Musik.

Dieser Visionär wird heute 70. Ist er das auch heute noch – ein Visionär? Ich kann mich gut der Gespräche erinnern, die wir schon Anfang der siebziger Jahre hatten, die voll Zweifel am realen Sozialismus waren. Er hatte als linker Politiker und Komponist die Möglichkeit, sämtliche sozialistischen Länder zu bereisen, die herrschenden Größen und die Strukturen intensiver kennenzulernen. Seine Enttäuschung war nicht zu überhören.

Nach diesen Erfahrungen versuchte er, in der eurokommunistischen Bewegung zu retten, was nicht mehr zu retten war. Der Bankrott näherte sich. Auch hier, wie sich später bestätigte, waren Personen und Strukturen vom alten Parteiruß nicht zu befreien. Theodorakis' Versuch, in Griechenland im Alleingang eine andere Bewegung, eine „neue Linke“ zu gründen, scheiterte an der politischen Polarisierung im Lande.

Was war das aber für eine Überraschung, die er Ende der achtziger Jahre der ganzen griechischen Linken, ja der Linken Europas und sogar der ganzen Welt bereitete?

Allen linken Parteien, auch der Pasok des langjährigen Staatspräsidenten Papandreou, den Rücken kehrend, arbeitet Mikis Theodorakis mit seinem traditionellen Feind, der rechten „Nea Demokratia“ zusammen. Er läßt sich sogar als Abgeordneten für sie ins Parlament wählen.

Diesen Schock haben viele Linke bis heute nicht überwunden. Auch wenn es für Theodorakis vor allem ein Versuch war, „Realpolitik“ zu machen. Seine Stimme im Parlament war eine zeitlang entscheidend für das politische Leben im Land. Sie war die Stimme der Mehrheit. Er konnte zum Beispiel die Regierung zwingen, unpopuläre Beschlüsse zu unterlassen, er konnte sie sogar mit seiner Stimme stürzen.

Er hat es aber nicht getan. Erneut enttäuscht verläßt Theodorakis auch diesen „Verein“. Die Phase des Politikers Theodorakis paßte in das politische Klima dieser Zeit in Griechenland, sie war das Resultat eines mühseligen Marsches durch die Parteien und der persönlichen Enttäuschung durch Kampfgefährten. Würde man ihm dies zum direkten Vorwurf machen, ich glaube, er würde mit seinem berühmten Zitat antworten: „Nur wer kriecht, stolpert nie“.

Obwohl Theodorakis immer sagte – und auch heute noch deutlich betont –, daß er die linke Idee nie preisgegeben hat, bleibt für mich diese Phase mitsamt der gesamtpolitischen Zusammenhänge des Jahrzehnts einer eigenen soziopolitischen Analyse wert.

Heute widmet Mikis Theodorakis, die „kretische Platane“, sich – mit Erfolg – seiner Musik und verschiedenen kulturellen Aktivitäten. Mir bleibt nur noch, ihm von hier aus alles Gute zu wünschen: „Ke na ta katostissi“ – er soll hundert werden.