So isch's!

In der Dichterklause: Wie Dieter Baumann schreibend versucht, den groben öffentlichen Entwurf seines Ichs zu verfeinern  ■ Von Peter Unfried

Dieter Baumann, heißt es, war ein offensichtlich problemloses Kind, das nie an den Ohren litt und sein kleines Leben weitgehend selbst regelte. Und heute? Ist das zweitjüngste von sechs Kindern des Blaubeurener Malermeisters Jakob Baumann noch immer ein „ganz normaler Kerle.“ Dies hat der Chef einer Pizzeria in Tübingen-Lustnau erfahren, die die Läufergruppe Baumann einmal in der Woche nach dem Training aufzusuchen pflegt. „Der Dieter“, sagt der, „kommt rüber mit seiner Frau und seinen Jungs. Ganz normal.“ Tatsächlich sind dem „populärsten Leichtathleten Deutschlands“ (Der Spiegel) auch beim Verzehr der Pizza keine Anomalitäten nachzuweisen. Ungewöhnlich mag allenfalls sein, daß er den öffentlichen Ort gewählt hat, um letzte Hand an ein Manuskript zu legen, in dem er Auskunft zu geben gedenkt über sein Leben, sein Wirken, den Inhalt seines Kopfes. (Dieter Baumann und Josef-Otto Freudenreich: „Ich laufe keinem hinterher“, Kiepenheuer & Witsch, Erscheinungstermin: 4. August).

Gerade 30 ist der 5.000-m- Olympiasieger von Barcelona 1992, unklar ist, ob er bei der WM in Göteborg Mitte August seinen Ruhm wird mehren können, und da kommt er schon mit einer ansatzweise biographischen Aufarbeitung der Vita? Die Medienfigur Baumann, „Deutschlands Vorzeigesportler“ (Sport Bild), den stets strahlenden und dennoch establishmentkritischen Vorzeigeschwaben, hat Dieter Baumann zwar miterschaffen, doch ist er nun an einem Punkt angekommen, wo er ihr ein differenzierteres Bild geben mag: Der Welt will er sein wahres Ich näherbringen. Ein Spruch, sagt Baumann, sei ein Spruch und habe hohe Abdruckerfolge, „weil's halt toll ist, wenn der Baumann mal einen Spruch bringt“. So wie's toll ist, wenn er auf der Zielgeraden alle überspurtet. Und keiner sehen will, wie dafür erst einmal 4.900 m zurückzulegen sind. Das Wesentliche, das Unspektakuläre zwar, doch das, was das Bild erst komplett macht, „kann ich nirgendwo anbringen“. Doch ist da dieses „Bedürfnis, viele Dinge zu erklären“. Was sich angesammelt hat im Laufe der Jahre, alles Themen, die er „angerissen“ zu haben meint und die ihn nun leise quälen, weil sie irgendwo unvollendet zwischen dem Läufer und der Welt hängen. Gefragt hat ihn keiner, er selbst hat entschieden: hier und jetzt. Und dann alles geregelt.

Um Baumann geht es ihm natürlich, aber auch um das Erlebnis des Laufens, um die Zukunft der Leichtathletik. „Man sieht ja immer nur die Bahn, wie die laufen, springen und hüpfen, aber da ist ja auch irgendwas dahinter. Da ist ja auch eine Philosophie.“ Der Mann, der sein Leben zu nicht unbedeutenden Teilen laufend verbringt, im Wald, glaubt manchmal einen ursprünglichen, naiven Naturalismus leben zu können, nun will er davon reden.

Es ist allerdings die Verbindung von Sportlern und Literatur häufig eine leidvolle und in der Hauptsache sehr einseitige: Erstere mißbrauchen in der Regel eindeutig zweitere. Für die geistigen Kinderstuben pflegt man zu produzieren, meist Schnellschüsse, häufig simple Glorifizierungen von Gegenstand und Protagonist. So wird der Sport konsequent verzerrt, simplifiziert und damit diskreditiert. Gefeiert wird der Erfolg, der alles und letztlich sich selbst begründet. Verdammt ist dadurch auch der Branchenzweig, ein Leben jenseits literarischer Kriterien zu fristen, diskutiert, wenn man das Wort gebrauchen mag, allenfalls in den Rubriken der Sportblätter.

Das wird Baumann nicht ändern können. Der, immerhin, fragt: Wie funktioniert Hochleistungs-, wie Showsport? Wie schreibt man darüber? Und antwortet: „Indem man etwas aufklärt, relativiert. Man muß den Leuten auch mal klarmachen, daß der Showbereich ja keine reelle Welt mehr ist. Reell ist nur der Wettkampf selbst.“ Weil die Fiktion im Genre Prominenten-Autobiographie meist schon bei der Gattung anfängt, hat Baumann auch hier andere Wege gesucht und gar nicht zufällig den Tübinger (Sport-)Journalisten Josef-Otto Freudenreich gefunden.

Auf der Veranda der Pizzeria nimmt er den Blick aus den gemeinsamen Aufzeichnungen und zeigt auf den Gegenüber: „Ich kann laufen und nicht schreiben. Er kann schreiben und nicht laufen. Jetzt haben wir uns zusammengetan und über Laufen geschrieben.“ Worauf Frau und Trainerin Isabelle Baumann (32) sagt: „Du bist mittendrin, und Josef- Otto steht außen und schaut drauf.“

Und Dieter sagt: Es ist ja immer ein Wechsel. Er, ich. In dem, was er über mich schreibt, entdecke selbst ich mich zum Teil neu.“

Nun ist Josef-Otto Freudenreich (44) nicht irgendeiner, sondern womöglich der höchstdekorierte Sportjournalist der Republik, kein Außenseiter der Redaktion, sondern Vorzeigeschreiber der Stuttgarter Zeitung, gefürchtet bei den Ruchlosen und seltsamerweise oft dennoch geschätzt. Einer der den handelsüblichen Sportjournalismus mit all seinen Defiziten überwunden hat, doch nach wie vor daran leidet. Und einer der wenigen Linken, die das Prinzip der Springer-Presse konsequent übernommen haben: Gebrauche den Sportler für deine Ziele!

„Wir haben natürlich auch des Glück, daß wir politisch eng verwandt sind“, sagt Baumann. „Wenn er CDU-Anhänger wär' ...“ So sind sich also beide grün, was vieles vereinfacht. Spannend aber bleibt der literarische Prozeß: Zwei bringen sich und ihre Ideen ein, auf das ein Gemeinsames herauskomme. Wie muß man sich das vorstellen?

Sagt Baumann: „Er hat's immer mit Widerwillen abgeschrieben, mit kratzender Feder, was ich gesagt habe.“

Sagt Freudenreich: „Wir ticken auch ähnlich, was den Spitzensport anbelangt. Ich habe sicher eine kritischere Einstellung als er. Aber das ist klar, er macht's ja auch.“

Sagt Baumann: „Ja, einmal über mein Geldverdienen hat er in seiner kritischen Art ... Aber das gehört vielleicht da rein. Weil so isch der Josef-Otto. In dem Buch muß man uns beide entdecken.“

Es ist, man kann es kaum länger verschweigen, eine Idylle, wie die drei da sitzen, der Dieter, die Isabelle und der Josef, und um Nebensätze und Klammereinschübe feilschen. So entsteht also ein Buch, in der zunächst mündlichen Produktion von Sätzen Baumanns, der schriftlichen derer Freudenreichs und ihrer darauffolgenden Diskussion. „Viele Aussagen waren klar“, sagt Baumann, „aber wenn man stundenlang zusammensitzt und diskutiert, da kommt dann schon dieser Aha-Effekt, da wird's im Kopf auch deutlicher.“

Das Ziel ist: Realismus. Baumann: „Es isch, wie's isch. Ich lüge mir nicht selber in die Tasche, und was dabei herauskommt, muß man sehen. Ob das die Leute lesen wollen oder net.“

Während das Autorenkollektiv arbeitet, streicht, lacht, Änderungen beschließt und wieder verwirft, fällt immer wieder ein Satz. „Wir sind doch der Wahrheit verpflichtet.“ Der Satz, das merkt man, ist stark ironisiert durch permanenten Gebrauch. Der Versuch, ihm seinen erdrückenden Imperativ zu nehmen, ist deutlich zu verspüren. Doch bei allem Hahaha bleibt ein schlimmer Verdacht: Dieser Satz ist ernst gemeint!

„Es geht nicht darum, jemanden in die Pfanne zu hauen“, sagt Baumann, „es geht darum zu zeigen: So isch's.“ Er bricht ab und setzt lauter noch einmal nach: „So isch's.“

Isabelle: „Ich glaube, es gibt viele Leute, die schon so gespannt sind, was duuu zu sagen hast.“

Dieter: „Aber all die, die so gespannt sind, die werden dann enttäuscht sein.“

Isabelle: „Das liegt dann nur daran, daß die Leute glauben, man zerreiße sich das Maul über sie. Das machen wir ja nicht.“

Machen die nicht. Die haben anderes im Kopf. Neulich haben sie in ihrer Gemeinde Blaustein am Rand der Schwäbischen Alb mitgewirkt, gegen den „kommunalpolitischen Filz“ (Baumann) einer Umgehungsstraße auf die Sprünge zu helfen, Baumann-GmbH-Alleingesellschafterin Isabelle ist hochschwanger, von ihrem Angestellten, und trainieren müssen beide auch noch. Dieters Bestzeit über 5.000 m steht seit 1992 bei 13:09.03 min, der Weltrekord des Kenianers Moses Kiptanui seit ein paar Wochen auf 12:55,30 min. Und das kurzfristige Interesse am Buch wird nicht unwesentlich abhängen vom Erfolg im Göteborger WM-Endlauf am 13. August.

Doch, sagt dazu der Olympiasieger, Rekordauflage anzustreben, „wär' so, als ob ich den Ansatz hätte, zu laufen, um Olympiasieger zu werden. Völlig falsch. Ich lauf' erst mal, weil ich Spaß an der Bewegung habe. Irgendwann, mit dem Erfolg, kommt dann erst der Gedanke, ich könnte einen ganz großen Wurf landen.“ Und er sagt: „Vielleicht kann ich einen kleinen Beitrag leisten, daß der Sportjournalismus nicht völlig in die Unterhaltungsecke abdriftet.“ So ist das: Da es sonst keiner macht, muß auch diese größte anzunehmende Sisyphos-Maloche der Olympiasieger persönlich regeln.

Bei der Arbeit an seiner Manuskriptkopie fällt Baumanns Blick auf ein Foto, das ihn als Mitglied einer Fußballjugend des TSV Blaubeuren zeigt. „Das Foto können wir nicht nehmen, Josef-Otto“, sagt er. Und weil es ein nettes Bild ist, mit abgewetzten Trikots und skurrilen Haarschnitten, fragt der Josef den Dieter erstaunt: „Warum nicht?“ Da deutet Dieter auf die Burschen in der hinteren Reihe und sagt ernst: „Die kann ich alle nicht leiden.“ So isch' s: Ein Mann ist ganz und gar der Wahrheit verpflichtet.