Zorn in der heiligen Altstadt

Die BewohnerInnen von Altjerusalem müssen zusehen, wie ihre Stadt immer mehr verfällt. Sie warten vergeblich auf den versprochenen Frieden.  ■ Aus Jerusalem Antje Bauer

Vierzehn russische Pilger in armseligen braunen Kutten stehen um den Tisch herum und lauschen der Morgenpredigt ihres zausbärtigen Priesters. Das Frühstücksbüfett trägt die Anzeichen einer Schlacht, in der alles, was nicht in den Magen paßte, als Wegzehrung eingepackt worden ist. Der palästinensische Kellner hat andere Sorgen: „Heute muß ich nach Bethlehem, ein paar Autopapiere abholen“, sagt er bedrückt. „Hoffentlich klappt es. Vor ein paar Tagen war ich dort, da haben die israelischen Soldaten Tränengas auf uns abgeschossen, weil die Wartenden gedrängt haben.“

Es ist noch nicht einmal acht, doch auf der Salah-ad-Din-Straße sind bereits alle Läden geöffnet. Ohne viel Erfolg freilich: Die Hauptgeschäftsstraße von Ostjerusalem ist fast menschenleer. In Zeitungsläden, Parfümerien und Druckereien stehen Angestellte in den Türen und grüßen Passanten.

Hügelabwärts herrscht etwas mehr Betrieb. Am Eingang des Restaurants al-Quds werden Dutzende Hähnchen auf lange Spieße gereiht. Auf dem Asphalt der Bürgersteige sitzen palästinensische Bäuerinnen in bestickten Kleidern vor kleinen Gurkenbergen, dicken Bündeln Petersilie, vor Zucchini- und Tomatenkisten: Markt der Armut. Verrostete, uralte Autobusse füllen die Luft mit Gestank. Vollbesetzte Mercedeskarossen entladen ihre Passagiere, vorne am Kühler weht kühn eine buschige schwarze Feder.

Das ist aber auch das einzig Stolze an den Fahrzeugen. Denn die Reise von Bethlehem oder Ramallah nach Jerusalem ist eine Fahrt durch die Demütigung. Wer in den besetzten Gebieten lebt, darf nur mit Sondergenehmigung nach Jerusalem reisen. Die wird auf den Transitstraßen kontrolliert. Lange Stopps, Durchsuchungen, die israelischen Soldaten haben's nicht eilig. Ostjerusalem, einst Handelsknotenpunkt für die Westbank, ist seit dieser Maßnahme wirtschaftlich stillgelegt.

Gegenüber dem Busbahnhof erhebt sich hoch und schier unendlich lang die Stadtmauer. Hinter ihr verbirgt sich Jerusalems Altstadt. Das Labyrinth von engen, verwinkelten Gassen und verschachtelten Häusern beherbergt die heiligen Orte von drei Weltreligionen: die Klagemauer, den Kreuzweg Christi und die al-Aqsa- Moschee. Vier Gemeinschaften leben auf engstem Raum im christlichen, armenischen, muslimischen und jüdischen Viertel. Die Muslime bilden mit 20.000 Einwohnern die Mehrheit, die Armenier sind am wenigsten: nur 3.000.

Die Khan-az-Zeit-Straße ist dunkel und eng. Lädchen reihen sich aneinander, von einem Karren voller Kassetten kreischt arabische Musik. Kurzbehoste Touristen und Palästinenserinnen mit weißem Kopftuch und Kleinkindern am Rockzipfel treten sich hier gegenseitig auf die Füße. Aus einer Gasse strömen spanische Pilger, angeführt von zwei Priestern im weißen Ornat und drei Frauen, die ein großes Holzkreuz schleppen. Die Gruppe bleibt stehen, die Priester beten laut, Khan ez-Zeit ist verstopft. Unter den teilnahmslosen Blicken der Souvenirverkäufer lassen sich die Pilger zum Gebet aufs Pflaster nieder.

Während das jüdische Viertel im Westen des Gebiets neu aufgebaut und mit Grünflächen versehen wurde, hat sich im muslimischen Teil seit Jahrzehnten kaum etwas geändert. Die Betuchteren unter den Palästinensern sind längst hinausgezogen, ins luftigere Ostjerusalem. Übriggeblieben sind kinderreiche Familien mit geringem Einkommen. Hinter malerischen Fassaden von jahrhundertealten Häusern leben 10köpfige Familien in Einzimmerwohnungen ohne Bad. Toiletten müssen oft mit anderen Familien geteilt werden. Lichtlos und stickig sind viele dieser Behausungen, zumal in den Basarstraßen, wo das Erdgeschoß von Geschäften eingenommen wird.

Ein Großteil der Häuser wird von dem „Islamischen Fonds“, (Waqf Islami), verwaltet, dessen Angestellte jordanische Staatsbeamte sind. Für die Infrastruktur der Altstadt ist hingegen die Gemeinde Jerusalem zuständig. Dieser Zwitterstatus hat dazu geführt, daß niemand sich der Altstadt annimmt.

Wo die Lebensbedingungen so schlecht sind, bleiben soziale Folgen nicht aus. „Es gibt viele Scheidungen und viele Kinder, die nur einen Elternteil haben“, sorgt sich Muhammad Nakhal, palästinensischer Assistent an der Uni Jerusalem und Verfasser einer Studie über den muslimischen Teil der Altstadt. „In Jerusalem braucht man ein hohes Einkommen. Aber das haben die wenigsten Familien hier – und schon gar nicht, wenn etwa der Vater tot ist.“ Seit einigen Jahren nimmt auch Alkohol- und Drogenmißbrauch zu – vor allem unter Jugendlichen. Es gibt keine Intifada mehr und keine Zukunftsperspektiven.

Talaat Kanafani beugt sich über Berge knalligfarbener Bonbons nach vorne. „Jetzt reden alle vom Frieden, aber geändert hat sich nichts“, sagt er. „Sie riegeln dauernd die Westbank ab, und deshalb kommen keine Kunden hierher. Ich verkaufe nichts, die Geschäfte werden nicht besser.“ Kanafani zwängt sich hinter der Theke hervor, um seinem Frust freien Lauf zu lassen. „Wenn die Israelis etwas sagen, dann tun sie's auch. Nicht wie die Araber. Die reden, tun aber nichts. Was Israel will, wird geschehen. Von dem, was die Palästinenser wollen, wird vielleicht ein oder ein halbes Prozent geschehen. Nichts.“

Zehn Minuten Fußweg von Kanafanis Süßwarenladen entfernt, im christlichen Viertel, liegt die „Heilige Begräbnisstätte“ Endstation der Via Dolorosa. Mönche unterschiedlicher Kulte bewachen die Kreuzigungs- und die Grablegungsstätte Jesu. „Immer nur sechs, habe ich gesagt!“ dröhnt ein beleibter Mönch, der sich vor dem Eingang zur Grablegungsstätte fläzt und den Zugang der Touristenschar beaufsichtigt. Die Händler in den Gassen um das christliche Heiligtum haben ihr Angebot dem Ort angepaßt: Sie verkaufen Ikonen, Ansichtskarten und Holographic-Postkarten, auf denen Jesus am Kreuz elegisch die Augen öffnet und schließt. Die Christian Quarter Road ist die Hauptstraße des christlichen Viertels, doch viele Händler sind Muslime.

Abseits der Basargassen herrscht unvermutete Ruhe. In den Höfen christlicher Schulen spielen Kinder. Blasse, in sich gekehrte Nonnen wandeln über Steintreppen. Eine junge Frau, die im Buchladen des Franziskanerordens arbeitet, hat Angst: „Ich bin Israelin“, sagt sie. „Nachts fürchte ich mich hier auf der Straße. Die Araber haben etwas gegen alle, die nicht Muslime sind.“

Einen Steinwurf entfernt liegt der Sitz des römisch-katholischen Patriarchats. Hinter verschlossenen Türen singt ein Männerchor, in einer klösterlich-kühlen Halle steht Vater Adib, Kanzler des Patriarchen. „Die christliche Gemeinschaft hier ist Teil des palästinensischen Volks“, sagt Vater Adib bedächtig. „Wir sind alle Palästinenser und sind in derselben Lage wie unsere Brüder, die Muslime. Das Leben hier ist von Unsicherheit geprägt. Man kann keine Zukunftspläne machen. Heute hat man eine Arbeit, morgen nicht. Heute kann man nach Jerusalem, morgen ist geschlossen. Unsere Leute haben eine bessere Ausbildung und deshalb mehr Gelegenheiten, in Europa oder in Amerika zu arbeiten. Deshalb können sie leicht emigrieren. Das unterscheidet uns von unseren palästinensischen Brüdern.“

Daß einige muslimische Brüder im vergangenen Jahr die Osterprozession angegriffen haben und es auch seither gelegentlich zu Übergriffen auf Christen gekommen sein soll, sieht Vater Adib nicht als religiöses, sondern als soziales Problem an. „Es herrscht eine gespannte Atmosphäre in der Altstadt. Nicht nur zwischen Christen und Muslimen, sondern auch zwischen Muslimen und Muslimen. Um jedes kleine Problem gibt es jetzt Streit. Es gibt eine Zunahme des Fundamentalismus unter den Muslimen. Wir spüren das und verstehen das: Es kommt aus der Frustration. Aber das ist nicht gegen Christen gerichtet.“

Unweit vom Heiligen Grab liegt die al-Aqsa-Moschee, das islamische Heiligtum. Der Bereich der Moschee und des Felsendoms ist zur Zeit für Nichtmuslime geschlossen. Israelische Siedler hatten kürzlich wieder einmal versucht, auf das Gelände vorzudringen. Dabei war es zu Auseinandersetzungen mit den Wächtern gekommen. „Hier gibt's immer wieder Ärger mit den Siedlern und den Soldaten“, schimpft ein Händler in der Nähe der Moschee. „Sie pöbeln und provozieren. Seit den Friedensgesprächen hat die Spannung ein wenig abgenommen, aber im Grunde hat sich nichts wirklich verändert.“

Dunkle Gänge und Gassen, Treppen und Höfe bestimmen die Altstadt. Nirgendwo ist deutlich auszumachen, wo das christliche Viertel endet und das muslimische beginnt. Doch das jüdische Viertel ist eine Welt für sich: An den Eingängen sitzen israelische Soldaten mit Maschinenpistolen und trinken Fanta. Auf ihrem Weg zur Klagemauer durchqueren die orthodoxen Juden das Muslimviertel. Leicht nach vorne geneigt, mit wehenden Schläfenlocken, eilen sie mit kleinen Schritten durch die Gassen, scheinbar ohne ihrer Umgebung gewahr zu werden. „Wir zittern, wenn wir durch das Muslimviertel gehen“, gesteht der orthodoxe Rabbi Israel Eichler.

Außer den Betenden patrouillieren gelegentlich israelische Soldaten durch das Muslimviertel. Statt einer Fanta halten sie bei dieser Gelegenheit ein Funkgerät einsatzbereit vor dem Mund. Siedler brechen sich wie Nashörner aggressiv einen Weg durch die feindlichen Gassen, zu den von ihnen besetzten Häusern und religiösen Schulen. Sie sind vergittert und verdrahtet. Auf die Türen dieser Häuser haben die arabischen Nachbarn schwarze Judensterne gemalt. Juden, die nicht beten und nicht provozieren wollen, betreten die muslimische Altstadt schon lange nicht mehr – oder allenfalls inkognito.

„Da schreien sie: Auf ewig vereint, niemals getrennt! Doch in Wirklichkeit ist Jerusalem auch jetzt eine zweigeteilte Stadt!“ empört sich Anat Hoffman, Abgeordnete der linken Meretzpartei im Stadtrat von Jerusalem. „Wir Israelis gehen doch schon jetzt nicht in den Ostteil der Stadt. Wir haben doch da gar nichts verloren.“ Doch die meisten ihrer Landsleute sehen das entschieden anders. Ron hat ein Touristenlädchen an nobler Stelle: Am Cardo, wo Ausgrabungen aus der Römerzeit die jahrtausendelange jüdische Präsenz beweisen sollen. Seine Familie ist seit 300 Jahren in Jerusalem ansässig. „Jerusalem muß auf ewig israelisch sein“, sagt Ron mit sanfter und entschlossener Stimme. „Denn dies hier ist das Land Kanaan, das Gott uns vor 2.000 Jahren gezeigt hat.“

Die Forderung nach dem „einen, ungeteilten israelischen Jerusalem“ bestimmt die Politik der israelischen Regierung. In der Altstadt, dem faulenden Zankapfel, wartet man ab. Mit wachsender Wut.