■ Neue Vorschläge des DGB-Chefs zur Arbeitszeitpolitik
: Höchste Zeit!

Er versucht den Tanker in Bewegung zu setzen. Die Ansätze einer neuen Arbeitszeitpolitik, die der DGB- Vorsitzende Dieter Schulte gerade vorgestellt hat, sind zukunftweisend. Ernst genommen, reformieren sie nicht nur die gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik, sondern die Gewerkschaftspolitik überhaupt.

Die bisherige gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik hat sich meist um traditionelle Themen – wie Überstunden, Zuschläge, Sonn- und Samstagsarbeit – gedreht. Für außerbetriebliche Belange der Beschäftigten oder gar der Umwelt der Betriebe war sie wenig zugänglich. Daran gemessen, zielen die Vorschläge des DGB-Vorsitzenden auf gesellschaftliche „Öffnung“ ab. Sie lassen betriebliche Produktivitätserfordernisse keineswegs außer acht. Aber:

– Sie tragen darüber hinaus den Entfaltungsbedürfnissen der Beschäftigten auf dem Gebiet der Arbeitszeit Rechnung (Stichwort „Zeitsouveränität“). Wir wissen heute – nicht zuletzt aus der Praxis einiger Vorreiterbetriebe (wie Mettler, Toledo, Draeger, Siemens-Nixdorf) –, daß eine von den Beschäftigten selbst verwaltete Arbeitszeitplanung längst möglich ist. Sie scheitert oft nur am Chefgehabe oder auch am subalternem Verhalten Beschäftigter, denen eine Weisung lieber ist als eine freie Abstimmung untereinander. Der DGB will hier endlich klar der Selbstbestimmung der Beschäftigten über die Arbeitszeit Vorrang einräumen. Das gäbe der Lebensplanung der Individuen, dem Geschlechter- und dem Generationenverhältnis neue Gestaltungsspielräume.

– Das entscheidend Neue an den Vorschlägen von Dieter Schulte ist, daß sie gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik als Beitrag zur gesellschaftlichen Produktivität und Gestaltungskraft verstehen. Sie sollen – da haben Schultes Vorschläge einer 30-Stunden-Woche schon früher Aufsehen erregt – helfen, durch Arbeitszeitverkürzung Arbeitslosigkeit zu verringern. Mit Arbeitszeitgestaltung soll die Gleichberechtigung der Geschlechter gefördert werden. Und man höre und staune, ein Thema, das in Italien Wellen schlägt und von den Gewerkschaften bislang weithin verdrängt wurde, wird auf den Tisch gebracht: Wie können private und öffentliche Dienstleistungen für Kunden, Eltern, Konsumenten, Bürger mit Hilfe moderner Arbeitszeitregelungen zugänglicher gemacht werden? In 80 italienischen Städten laufen heute Experimente „tempi della cittá“ (= Zeiten der Stadt). Wie können die städtischen Zeitangebote – für Kindertagesstätten, Schulen, Verkehrsbetriebe, Läden, Behörden – besser auf BürgerInnenbedürfnisse zugeschnitten werden? Das ist ein großes Zukunftsthema – eines, das (siehe das italienische Beispiel) ohne oder gar gegen die Gewerkschaften kaum zu bewältigen ist. In Schultes Perspektiven einer neuen Arbeitszeitpolitik scheint dieses Zukunftsthema auf.

Im November 1990 mahnte der damalige DGB- Vorsitzende Heinz-Werner Meyer auf dem Hattinger Forum „Jenseits der Beschlußlage“ die programmatische Erneuerung des DGB an. Seither ist, nicht ohne erhebliche Widerstände und Rückschläge, ein neuartiger Reformprozeß angelaufen. Die Vorschläge Dieter Schultes zur Arbeitszeitpolitik versprechen der Modernisierung der deutschen Gewerkschaften neue Impulse zu geben. Ulrich Mückenberger

Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg